Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
spürte Emma, wie der Blick ihres Vaters immer wieder voller Besorgnis auf ihr ruhte. Sie wusste, dass er sich große Sorgen um sie machte und ängstlich darauf wartete, dass sie etwas sagte, was ihr unerschütterliches, in sich ruhendes Selbst wieder zum Vorschein brachte, doch diesmal hatte sie nicht die Kraft dazu.
Den Blick aus dem Fenster gerichtet, obwohl sie die vorübergleitende Landschaft kaum wahrnahm, murmelte Emma: »Es ist traurig, nicht?«
Er antwortete: »Ja, das ist es.«
Als sie nichts mehr sagte, sprach er weiter: »Aber wir haben dergleichen schon früher erlebt, meine Liebe – immer wieder, oder nicht? Nachgiebige Eltern, die ihre Kinder verwöhnen, ein selbstsüchtiges und unmoralisches Leben führen und dann, wider alle Vernunft, schockiert und beschämt sind, wenn ihre Kinder ihrem Beispiel folgen.«
Sie nickte unbestimmt. Sie hatte nicht an Julian Weston gedacht, war jedoch erleichtert, dass ihr Vater sie missverstanden hatte. Sie war nicht ganz einverstanden mit seinen Worten, schwieg aber und machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass ein und dieselbe Erziehung vier völlig unterschiedliche Westons hervorgebracht hatte – ganz zu schweigen von Adam.
Wieder dachte sie darüber nach, was sie sich bisher zu den vier Brüdern und den vier Winden überlegt hatte. Sie hatte Phillip als den milden, sanften Westwind eingestuft und hatte wahrscheinlichsogar recht damit gehabt, auch wenn seine Treue schwankend war. Sie wusste jetzt, dass Rowan, trotz des ersten, gegenteiligen Eindrucks, es gut meinte und nur gelegentlich etwas übereifrig war, wie der Südwind. Und der Ostwind mit seiner grausamen, zügellosen Persönlichkeit, der so gerne Stürme weckte? Julian. Am stärksten hatte sie sich in Henry getäuscht, der ganz und gar nicht so kalt und zornig war wie der Nordwind, für den sie ihn gehalten hatte. Und den fünften Weston-Bruder hatte sie noch gar nicht gekannt, als sie ihre sinnlosen Thesen aufstellte.
Am Ende spielte der Mythos keine Rolle. In Wirklichkeit zählte nur der Charakter eines Menschen, das, was er mit seinem Leben und den Fähigkeiten, die Gott ihm gegeben hatte, anfing, und seine täglich neu getroffene Entscheidung, sich trotz aller menschlichen egoistischen Neigungen und Schwächen ehrenhaft zu verhalten.
Und was war mit ihr? Was würde sie jetzt mit dem Leben anfangen, das Gott ihr gegeben hatte?
Am Abend trafen sie nach sechs oder sieben Stunden Fahrt in Longstaple ein. Unterwegs hatten sie an mehreren Gasthäusern haltgemacht, um die Pferde zu wechseln, sich ein bisschen die Beine zu vertreten und eine Erfrischung aus dem Korb, den Mrs Prowse für sie gerichtet hatte, zu sich zu nehmen.
Ihr Vater wies den Kutscher an, sie zum Haus von Jane Smallwood zu fahren, da ihr eigenes Haus noch vermietet war. Sie konnten schließlich nicht einfach hineinspazieren und die Mieter bitten, das Haus noch am selben Tag zu verlassen.
Emma hoffte, dass ihre Tante Jane nichts gegen ihr unangekündigtes Kommen einzuwenden hatte; es war keine Zeit mehr gewesen, sie zu benachrichtigen.
Tante Jane begrüßte sie überrascht, freudig zwar, doch nicht ohne Sorge. Ging es ihnen auch gut? Waren sie gesund? War etwas schiefgelaufen, dass sie so früh zurückkehren mussten?
Emma beteuerte, dass sie ihr alles erzählen würden, und fragte, ob sie sie erst einmal für eine Weile unterbringen konnte.
Natürlich waren sie willkommen, versicherte Tante Jane. Emma konnte bei ihr schlafen und ihr Bruder konnte ein Zimmer haben, das leer stand, weil die Schülerin, die es bewohnt hatte, zu Hause bei ihrer kranken Mutter war.
Emma seufzte dankbar und erleichtert auf, dass sie einen vertrauten Ort hatte, einen lieben Menschen, bei dem sie bleiben konnte. Sie wies den Kutscher und den Pferdeknecht an, ihr Gepäck in die Diele zu bringen. Dann dankte sie ihnen, gab ihnen ein Trinkgeld – welches sie höflich ablehnten, und nannte ihnen ein ordentliches Gasthaus, in dem sie die Nacht verbringen konnten, bevor sie morgen zurückfuhren.
Als sie fort waren, führte Jane Smallwood ihren Bruder und ihre Nichte zuallererst in das gemütliche Wohnzimmer. »Kommt, meine Lieben. Jetzt trinkt ihr erst einmal eine Tasse Tee und dann machen Jenny und ich euch eine Kleinigkeit zu essen.«
»Mach dir keine Mühe, Tante Jane«, sagte Emma. »Wir haben unterwegs genügend gegessen, Tee klingt wunderbar und genügt völlig.«
Ein paar Minuten später trug Jenny ein Teetablett mit einem Teller Kekse
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