Die Tochter des Kardinals
sagte Giulia.
Fulvia nahm den Schleier und setzte ihn Giulia auf. Dann griff sie nach Giulias Hand und zog sie mit sich. »Komm.«
Hintereinander schlichen sie aus der Kammer und sahen sich um. Auf dem Gang war es still.
»Wohin gehen wir?«, flüsterte Giulia.
Fulvia legte ihr zwei Finger auf die Lippen. »Still! Folge mir.«
Auf leisen Sohlen führte Fulvia ihre Mitschwester quer durch den Petersdom. Mehrmals mussten sie sich in einer Nische verstecken, um nicht von rastlosen Kirchenmännern oder patrouillierenden Gardisten entdeckt zu werden.
Schließlich gelangten sie in den Innenhof. Im Schein des Mondlichts liefen sie an der Mauer entlang, bis sie einen kleinen Verschlag erreichten. Drinnen lagen mehrere Schuber Heu.
Fulvia schob das Heu beiseite, bis eine Falltür zum Vorschein kam. Sie zog die Falltür an einer Kette hoch. »Da hinein«, sagte sie.
Giulia verschränkte die Arme. »Ich gehe dort nicht hinunter, bis du mir gesagt hast, wohin dieser Schacht führt.«
»Zu einem Gang«, sagte Fulvia und grinste.
»Und wohin, in Gottes Namen, führt dieser Gang?«
»Zur Engelsburg«, antwortete Fulvia.
»Was?«, entfuhr es Giulia. »Du willst zur Engelsburg? Warum?«
»Du wolltest wissen, was dort geschieht. Noch in dieser Nacht sollst du es erfahren.«
Giulia fürchtete sich davor, in das finstere Loch hinunterzusteigen. Und noch viel mehr fürchtete sie sich vor dem, was ihr in der Engelsburg begegnen würde. Doch schließlich siegte ihre Neugier, und sie folgte Fulvia in die Dunkelheit hinunter.
Kaum hatte Giulia den Fuß auf den steinigen Untergrund gesetzt, huschte etwas um ihre Beine herum. Sie schrie auf.
»Ruhig«, flüsterte Fulvia. »Das war nur eine Ratte.«
» Nur eine Ratte?« Giulias Stimme zitterte.
Fulvia packte sie am Arm. »Komm! Und sei still!«
Welch ein Segen wäre jetzt eine Fackel in diesem dunklen, feuchten Gang, in dem es vor Ratten nur so wimmeln mochte, dachte Giulia, während sie Fulvia folgte. Hin und wieder stolperte sie über Wurzeln, die durch das spröde Mauerwerk gebrochen waren.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Fulvia, nachdem sie eine Weile gegangen waren.
Bald tauchte ein schwacher Lichtschein vor den Nonnen auf.
Als sie näher kamen, entdeckte Giulia Sprossen an einer steinernen Wand. Sie führten durch einen Schacht nach oben. »Wo sind wir?«, wollte sie wissen.
»Unterhalb der Engelsburg«, sagte Fulvia und erklomm die ersten Sprossen.
Giulia hielt sie zurück. »Was hast du vor?«
»Dort oben«, sagte Fulvia und zeigte hinauf, »findet heute ein Fest statt. Ein Fest der, sagen wir, besonderen Art. Folge mir.« Sie riss sich los und stieg nach oben.
Widerwillig und ein wenig ängstlich folgte Giulia. Fulvia schob ein Eisengitter zur Seite und kletterte durch die Öffnung.
Hinter ihr stieg Giulia aus dem Schacht. Beide fanden sich in einer kleinen, leeren Kammer wieder, an deren rußschwarzen Wänden Fackeln brannten. Zwei Türen gab es hier. In einer von beiden war in Augenhöhe ein winziges Gitter angebracht, durch das sie in einen schmalen, schmucklosen Gang mit roh behauenen Wänden und Decke schauten. Im Abstand von zehn Fuß brannten Fackeln.
»Wir sind hier in der Nähe der Kerker«, erklärte Fulvia. »Den Weg, auf dem wir hergekommen sind, nennt man Passetto . Papst Nikolaus III. ließ ihn vor dreihundert Jahren errichten. Seitdem dient er als Fluchtweg der Päpste aus dem Vatikan.«
»Warum lässt man ihn nicht bewachen?«, fragte Giulia.
»Er ist längst in Vergessenheit geraten«, sagte Fulvia. Sie trat neben Giulia und blickte durch das Gitter auf den Gang hinaus. »Es ist alles ruhig. Folge mir.« Sie öffnete die Tür und schlüpfte hindurch.
Giulia tat es ihr gleich und zog die Tür hinter sich zu.
Zielstrebig ging Fulvia nach links. Hinter einer Biegung tauchten auf der zum Burginneren gewandten Seite schmale Türen auf, in die ebenfalls ein winziges Gitterfenster eingefügt war. Fulvia duckte sich. »Runter!«, flüsterte sie. »Und kein Wort! Rasch!«
Zügig schlichen sie an der Wand entlang unter den dunklen Öffnungen durch. Irgendwo raschelte es, und Schritte drangen an ihre Ohren. Plötzlich war der Gang durch eine weitere Tür blockiert. Fulvia öffnete sie einen Spalt. Frische Luft drang hindurch. Noch immer gebückt, schnellte sie auf die andere Seite, dicht gefolgt von Giulia.
Sie standen nun unter freiem Himmel, mitten in einem von Burgmauern umgebenen Innenhof. Über ihnen schimmerten unzählige Sterne zwischen
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