Die Tochter des Kardinals
Flüsse, umreisten dichte Nadelwälder, durchquerten staubige, ausgetrocknete Flussbetten zwischen unendlich hohen Felswänden. Hinter Schluchten warteten Geröllhalden, hinter Geröllhalden Sumpflandschaften voll gieriger Moskitos. Peitschender Regen wechselte mit sengender Sonne und schneidenden Winden. Dabei hatte man die Route so gewählt, dass der Papst, die Kardinäle und die Bischöfe so oft wie möglich in einem Kloster nächtigen konnten.
Nach zwei Wochen waren alle am Ende ihrer Kräfte. Allein der Papst schien bei jedem Schritt, den er näher an die geliebte Heimat herankam, neue Kraft zu schöpfen. Seine Wangen röteten sich, die Leichenblässe verschwand aus seinem Gesicht. Die Augen schauten nun lebhafter, die schmalen Lippen lächelten oft, und auch seine ihm eigene Schwatzhaftigkeit trat wieder zutage. Ab und zu ließ er es sich nicht nehmen, auf ein Pferd zu steigen.
Giulia empfand Freude und Dankbarkeit über die Verwandlung des Heiligen Vaters. Gleichwohl ahnte sie, dass diese Verwandlung sich umkehren würde, sobald er seine Heimat wieder gen Rom verließ. Doch bis dahin blieb noch Zeit.
An diesem Tag sollten sie Velino erreichen, ein Kloster der Benediktiner.
Giulia saß mit dem Heiligen Vater und Monsignore Gazetti in der Kutsche, in der die warme Luft sich wie ein schwerer Mantel auf sie legte und sie zu erdrücken drohte. Noch nie war der Wunsch in ihr so groß gewesen, sich das weiße Wimple mitsamt dem darüber liegenden schwarzen Schleier vom Kopf zu reißen. Ihre Augen brannten und waren müde. Wie so oft sah sie aus dem Fenster. Gerade fuhr die Kutsche an einem winzigen Dorf vorbei. Es bestand nur aus wenigen Häusern, dazu eine Schmiede, eine Töpferei und ein alter Stall neben einer zerfallenden Scheune.
Auf einmal hörte Giulia Schreie. Sie streckte den Kopf hinaus und blickte sich suchend um. Da entdeckte sie neben einem Hügel unweit des Weges mehrere Gestalten. Auf dem Hügel standen sechs Bäume. An drei Bäumen baumelten Männer an Stricken. Drei anderen Männern wurden gerade die Galgenstricke um den Hals gelegt. Dem vorbeiziehenden Tross schenkten die Menschen auf dem Hügel kaum Beachtung.
Giulia überkam eine furchtbare Ahnung. Sie schob sich noch ein Stück weiter aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu, sein Gefährt anzuhalten. Sofort kam der gesamte Tross zum Stehen. Gazetti und der Papst schauten sie fragend an. »Verzeiht, Euer Heiligkeit«, sagte sie so schnell, dass ihre Worte Purzelbäume schlugen. »Ich glaube, an diesem Ort geschieht ein großer Frevel.« Sie öffnete die Tür und sprang hinaus.
»Gazetti«, sagte der Papst, »seht nach, was in die Schwester gefahren ist.«
Giulia eilte die wenigen Schritte bis zum Hügel. Drei Männer mit Heugabeln und Äxten bemerkten sie und stellten sich ihr in den Weg. »Lasst mich unverzüglich durch!«, befahl sie den Männern.
»Das geht Euch nichts an, Schwester«, sagte einer der Männer, ein hagerer Kerl mit dümmlichem Gesicht. Der Tross mit Hunderten Menschen schien ihn nicht zu beeindrucken. Noch weniger schien ihn zu kümmern, wer dort durch die Lande reiste.
Gazetti kam zu ihr. »Monsignore«, flehte Giulia, »befehlt diesen Männern, uns vorbeizulassen. Ich bitte Euch!«
Gazetti blickte an Giulia und den Männern vorbei zum Hügel. Ebenso wie sie schien er zu begreifen, was dort geschah, denn Kummer zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Wir können nichts tun, Schwester«, sagte er. »Diese Männer handeln rechtens.«
Giulia war fassungslos. Sie baute sich vor den drei Männern auf. »Gebt den Weg frei!«
Die Männer hoben ihre Äxte und Heugabeln. »Ihr habt gehört, was der Monsignore gesagt hat. Hindert uns nicht daran, Gottes Werk zu verrichten.«
In diesem Augenblick ertönte Hufgetrappel. Capitano Geller und zwei Gardisten ritten heran. Geller richtete seine Pistole auf die Männer. »Tut, was die Schwester Euch befohlen hat!«, sagte er.
Giulia drängte sich an ihnen vorbei und lief den Hügel hoch. Vier Männer hielten die drei Delinquenten fest. Es schien, als hätten sie den Vorfall beobachtet und wollten ihre Opfer nun in aller Eile richten. Giulias Blick fiel auf die Gehenkten, zwei Männer und eine Frau. Ihre Körper baumelten im leichten Wind, und auf ihren Gesichtern lagen Leid und Anklage zugleich. Sie trugen Schilder um den Hals. Auf dem der toten Frau stand geschrieben: Ich war eine elende Lutherhure . Auf einem anderen stand in großen Lettern: Der Teufel Luther ist in mich
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