Die Tochter des Magiers
Roxanne sich damit auskannte und er nicht drauf und dran
war, jemanden umzubringen. Obwohl er deswegen keine übermäßigen
Gewissensbisse empfunden hätte.
Nachdem er das leere Fläschchen wieder in die Tasche gesteckt
hatte, drehte er sich gespielt panisch herum. Er hatte absichtlich
diese Sackgasse ausgesucht. Sollten sie ihn ruhig noch mal verdreschen.
Wenigstens einer von ihnen würde später auf jeden Fall dafür büßen.
»Was ist los, du Scheißer?« Alex merkte, daß sein Gegner in
der Falle saß und grinste. »Verlaufen?«
»Ich will keine Schwierigkeiten.« Luke unterdrückte seinen
Stolz und tat, als zittere er vor Angst. »Ich habe kein Geld mehr. Ich
hab alles hierfür ausgegeben.«
»Kein Geld?« Alex griff nach der Flasche und drängte Luke
gegen die Wand. »Sieh nach, ob er lügt, Jerry.« Er nahm einen tiefen
Schluck.
Luke wimmerte und ließ es zu, daß der andere Junge seine
Taschen durchwühlte. Er wollte sicher sein, daß Alex die Flasche auch
leerte.
»Er hat nix«, verkündete Jerry. »Gib mir auch 'nen Schluck ab,
Alex.«
»Besorg dir selbst was.« Alex setzte die Flasche an den Mund,
trank aus und warf sie ins Gebüsch. »So, jetzt zur Sache.«
Aber diesmal war Luke vorbereitet. Wenn man nicht kämpfen
konnte, sollte man besser das Weite suchen. Er senkte den Kopf und
rammte ihn Alex in den Bauch. Alex torkelte gegen die anderen beiden,
so daß alle drei wie ein Kartenhaus übereinander stürzten. Luke sauste
los. Ehe sie sich wieder aufgerappelt hatten, konnte er längst weg
sein, denn er war schneller als sie, das wußte er. Aber sie sollten ihn
ruhig jagen. Ein bißchen Bewegung sorgte bestimmt dafür, daß die Sache
bei Alex in Gang kam.
Er lockte sie in Richtung Jackson Square, die Royal-Street
hinunter, schlidderte bei St. Ann um die Ecke und warf einen Blick über
die Schulter. Alex war käseweiß, und der Schweiß strömte ihm über das
Gesicht. Erst vor Max' Haus blieb Luke stehen. Er überlegte gerade, ob
er noch weiterrennen sollte, als er sah, daß Alex sich stöhnend den
Bauch hielt.
»He, was ist los?« Jerry zerrte ihn am Arm. »Los, Mann, sonst
entwischt er uns.«
»Mein Bauch! Mein Bauch!« Alex flitzte davon und kauerte sich
hinter einigen Rhododendren.
»Herrgott«, rief Jerry angewidert. »Das ist ja eklig.«
»Kann nicht, kann nicht mehr«, war alles, was Alex
herausbrachte, während LeClercs Abführmittel erbarmungslos seine
Wirkung tat.
»Oh, das gibt's doch nicht.« Wie aus dem Nichts tauchte
plötzlich Roxanne auf. »Da sitzt ein Junge im Gebüsch und macht
dorthin! Mommy!« quiekte sie mit aufgeregter Babystimme. »Mommy, komm
schnell.«
»Mach schon, Alex! Herrje, jetzt mach doch!« Jerry und sein
Kumpan schauten sich bestürzt um. Als sie sahen, daß mehrere Erwachsene
herbeieilten, hielten sie es für besser, sich schleunigst aus dem Staub
zu machen und ließen den stöhnenden Alex kurz entschlossen im Stich.
Mit hochzufriedener Miene schlenderte Roxanne zurück in den
Hof. »War das nicht besser, als ihn zu verdreschen?« sagte sie zu Luke.
»Das hätte er rasch vergessen, aber diese Sache nicht.«
»Und du hast mal behauptet, ich sei gemein«, grinste er.
Vom Balkon seines Schlafzimmers aus hatte Max fast das
komplette Drama beobachtet und alles gehört, was er hören mußte. Meine
Kinder, dachte er stolz. Sie wissen sich zu helfen und kommen allein
zurecht. Wie würde sich Moira über ihre Tochter freuen.
Er dachte nicht oft an seine Frau, die wie ein rothaariger
Wirbelwind durch sein Leben gefegt war. Er hatte sie geliebt, o ja, er
hatte sie aus tiefstem Herzen geliebt, mit einem fast ungläubigen
Staunen über dieses wunderschöne und temperamentvolle Geschöpf.
Selbst nach so vielen Jahren fiel es ihm schwer zu glauben,
daß dieses sprühende Leben durch solch eine lächerliche Lappalie
ausgelöscht worden war.
Ein geplatzter Blinddarm. In ihrer Unbekümmertheit hatte sie
nicht auf die Schmerzen geachtet – und dann war es zu spät
gewesen. Eine halsbrecherische Fahrt zum Krankenhaus, und die
Notoperation hatten sie nicht mehr retten können. Doch sie hatte ihm
das kostbarste Andenken an ihre gemeinsame Zeit hinterlassen.
Ja, Moira wäre sicher stolz auf ihre Tochter gewesen.
Er wandte sich um und betrachtete Lily, die ein zusätzliches
Paar Socken in seine Reisetasche packte.
Lily. Schon allein bei ihrem Namen mußte er lächeln. Das
Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint, daß ihm gleich zwei wunderbare
Frauen ihre Liebe geschenkt
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