Die Tochter des Teufels
sie sich auf die struppigen Rücken schwangen und dem fahlen Streifen entgegengaloppierten, der den Morgen ankündigte.
Beim ersten Sonnenstrahl erhob sich ein lautes Geheul um das niedergebrannte Feuer. Die kleinen Burjäten traten gegen die leeren Stricke, bespuckten sie und klagten wie hungrige Wölfe ihr Leid dem heller werdenden Morgenhimmel. Dann warfen sie sich auf die Pferde und jagten den Flüchtlingen nach.
Es war ein Sonntag, als der Zug, in dem Gurjew und Nadja saßen, im Bahnhof von Wladiwostok einlief. Noch war die Stadt im Besitz von General Karsanow, aber sie bot das Bild einer Heeresetappe und war überfüllt mit Flüchtlingen aus allen Gegenden. Eine Stadt, die aus den Nähten platzte. Eine Stadt, in der schon um Mitternacht die Frauen anstanden, um Brot, Kartoffeln und Fisch in den Läden zu bekommen. Eine Stadt, durch deren Gassen schon die Parolen der Roten krochen, wo jeden Tag Sabotageakte und Bombensprengungen die Menschen erzittern ließen.
Hand in Hand rannten Gurjew und Nadja durch die Stadt, vom Bahnhof bis zum Haus des Schneiders Klobkow. Wie wilde Tiere stürzten sie die Treppe zur Wohnung Klobkows hinauf, rissen die Türen fast aus den Scharnieren und stießen den sprachlosen Klobkow zur Seite.
Die kleine Helena Nikolajewna Gurjew spielte auf dem Fußboden mit bunten Bauklötzen aus Holz. Dick und rund war sie geworden, rosig und gesund sah sie aus, und sie lachte hell den beiden entgegen, die vor ihr in die Knie sanken, weinten, sie an sich zogen und sie küßten.
»Mein Kleines …«, stammelte Nadja und drückte das Köpfchen an ihre Brust. »O mein Kleines … wie schön du bist … wie gesund … wie glücklich …«
Über eine Stunde dauerte die Begrüßung, dann saß man am großen Tisch der Klobkows, aß Piroggen und trank Kwaß. Klobkow gab Gurjew die neueste Zeitung über den Tisch, die er eben auf der Straße gekauft hatte.
General Karsanow erklärte Wladiwostok zur Festung.
Die letzte sibirische Bastion vor der roten Flut.
»Wir werden alle vor die Hunde gehen«, sagte Klobkow trübe. »Eine Festung! Die Roten werden keine Gnade kennen! Und was wollen Sie machen, Euer Gnaden?«
Gurjew sah über den Tisch zu Nadja, und ihre Blicke trafen sich und sagten das gleiche.
Was soll nun werden?
Mit einem Schiff ins Ausland? Rußland verlassen? War das nicht Feigheit? Konnte man leben ohne den russischen Himmel?
Eine Falle war zugeschlagen. Vor ihnen lag das Meer, die Fremde, die Emigration … vom Land her rollten die Wogen der Roten Armeen heran und vernichteten alles, was noch das ›alte Rußland‹ war.
»Wir werden es schaffen, irgendwie, Niki …«, sagte Nadja leise, und alle hörten ihr bewegungslos zu. »Das wichtigste ist: wir sind nun alle zusammen. Den kleinen Platz, den wir zum Leben brauchen … wir werden ihn irgendwo finden …«
10
Nur wenige Tage blieben zum Ausruhen und zum Nachdenken. Nachdem Nadja und Nikolai fast vierundzwanzig Stunden geschlafen hatten, gingen sie durch die Straßen Wladiwostoks, um neue Kleidung zu kaufen. Gurjews von General Ryschikow geschenkte Uniform hatte Klobkow in Verwahrung genommen; er hatte Rock und Hose gebügelt, die Knöpfe nachgenäht, die silbernen Tressen geputzt und die Uniform dann in einen Schrank gehängt. Von den Rubeln, die Nadja für Helenas Verpflegung zurückgelassen hatte, war noch eine Menge vorhanden, und so besuchten Nadja und Nikolai nun Geschäft nach Geschäft, um einen Anzug, Sommerkleider, einen dünnen Mantel, einen Hut und Schuhe zu kaufen.
Aber überall war es das gleiche – die Händler machten große Augen, als Nadja ihre Wünsche vorbrachte, warfen einen Blick an die Decke und falteten die Hände über dem Bauch.
»Das Geschäft ist leer, das Lager ist leer – sehen Sie sich um! Rubel! Wissen Sie, ob dieser Rubel morgen noch etwas wert ist? Versuchen Sie es bei Saltijew um die Ecke.«
Aber auch Saltijew hatte keinen einzigen Fetzen Stoff mehr, und bei Kraschenkow, Buljatin und Wladronow war es ebenso.
»Sie halten die Waren zurück!« knirschte Nikolai Gurjew, nachdem sie den ganzen Tag herumgelaufen waren. Einer war sogar so dreist gewesen, sie bereits mit ›Genosse‹ anzureden und Gurjew eine flache Arbeitermütze anzubieten. »Sie haben die Keller voll, ich möchte wetten! Sie warten, bis die Bolschewisten in der Stadt sind, und dann quellen die Geschäfte über! Anspucken sollte man sie alle, diese Krämer!«
In der Nähe des Hafens fanden sie, müde vom Laufen und durstig
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