Die Tortenbäckerin
ein Lausebengel, Vater. Hör gar nicht hin.«
»Ich habe eine wichtige Frage!«, schoss Oliver zurück.
»Nur zu, mien Jung«, sagte daraufhin der alte Herr. »Ich höre.«
»Ist das eine Kriegsverletzung?«
»Herr im Himmel, nein. Der Krieg ist seit fünfundzwanzig Jahren zu Ende, und dieses hier ist ein ziemlich frischer Verband. Du scheinst mir ein recht dummer Junge zu sein.« Er lieà dazu ein meckerndes Lachen erklingen.
Greta musste plötzlich lächeln. Es war erstaunlich, wie leicht die Erwachsenen Oliver unterschätzten. Der Junge warf sich nun auch prompt in die Brust und sagte: »Ich dachte dabei nicht an den Franzosenkrieg. Es hätte ja sein können, dass Sie im Sudan waren und in einer britischen Kompanie gegen die aufständischen Mahdisten gekämpft haben. Ich finde, Sie sehen sehr wie ein englischer Gentleman aus.«
Der alte Herr hob die Hände, als wollte er sich ergeben. »Vergib mir, dass ich dich einen Moment für dumm gehalten habe. Also, was möchtest du wissen?«
»Wenn es keine Kriegsverletzung ist, haben Sie dann vielleicht den grauen Star?«
»So ist es, mien Jung, so ist es.«
»Und Sie sind hier operiert worden?«
»Ganz richtig.«
»Können Sie jetzt wieder sehen?«
»Nun«, der alte Herr wog den Kopf hin und her. »Das werde ich erfahren, wenn mir der Verband abgenommen wird. Aber ich bin voller Hoffnung.«
»Danke schön«, sagte Oliver artig. Dann verfiel er in brütendes Schweigen und achtete nicht auf die Versuche des alten Herrn, ihn in ein Gespräch zu ziehen.
Auch Greta war nicht nach Unterhaltung zumute. Die Angst um Leni schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah zu Siggo hinüber. Er saà ihr gegenüber auf einem der Stühle, die viel zu klein für ihn waren. Endlich erwiderte er ihren Blick.
Etwas war anders. Es fühlte sich an, als sei er nicht mehr böse mit ihr. Als sei die Dunkelheit von ihm gewichen, und als könnte sie in seinen Augen die Liebe finden. Doch Greta schaute schnell wieder weg. Nichts anderes zählte jetzt für sie als das, was mit Leni geschah.
Für eine Weile legte sich eine tiefe Stille über den Warteraum, nur unterbrochen von einem gelegentlichen Räuspern oder dem Rascheln von Stoff. Endlich begann Mathilde mit Gerlinde ein Gespräch über die Milchpreise, die schon wieder gestiegen waren, über den Kohlehändler ihres Viertels, der immer mehr der Trunksucht verfiel, und über eine Nachbarin von Gerlinde, die ihr zwölftes Kind erwartete.
Froh über die Ablenkung, beobachtete Greta, wie die Tochter des alten Herrn erstaunt die Augenbrauen hob. Ãber den Milchpreis hatte sie bestimmt noch nie nachgedacht, um die Kohlelieferungen kümmerten sich dieBediensteten, und eine solch groÃe Kinderschar war in den feinen Hamburger Bürgerhäusern gewiss nicht üblich.
Siggo stand plötzlich auf und setzte sich auf den freien Stuhl neben Greta. Offenbar hatte er nur auf einen günstigen Moment gewartet.
Eine raue Hand streifte die ihre und hinterlieà eine Spur aus Wärme. Sein Atem liebkoste ihre Wange, seine Stimme war ein zärtliches Flüstern. Es dauerte einen Moment, bis Greta den Sinn seiner Worte aufnahm.
»Ich kann Lenis Operation bezahlen.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Wir wissen gar nicht, wie viel es kosten wird.«
»Das ist einerlei. Ich habe meine Ersparnisse, wie du weiÃt, und wenn sie nicht reichen, kann ich ein paar der neu angeschafften Wagen und Pferde wieder verkaufen.«
»Aber â¦Â«
Seine Hand legte sich nun fest auf ihre. »Still, Greta. Es geht um Lenis Glück. Wir schaffen das.«
Dies war der Moment, in dem sie ihm in die Augen schauen musste. Allein â es gelang ihr nicht.
Zu viel ist geschehen, dachte sie bedrückt. Nicht alles lässt sich so einfach wiedergutmachen. Sie versteifte sich, spürte ihre alten Ãngste in sich hochsteigen, rückte ein Stück von ihm ab.
Siggo verstand. Er zog seine Hand weg und kehrte zu seinem Platz zurück. Dort starrte er auf seine Knie und sagte kein Wort mehr, bis nach einer endlosen Zeit des Wartens Leni an der Hand derselben Schwester zurückkam. Sie wirkte fröhlich und erzählte sofort von geheimnisvollen kalten Geräten, die sie hatte anfassen dürfen, von einem Doktor mit ganz weichen Händen, der nachTabak gerochen hatte, und von einem
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