Die Tortenbäckerin
verzog sich Oliver nun immer öfter in seine Kammer, wenn er überhaupt einmal daheim war.
Mathilde ahnte, dass er sich mit seinen Freunden herumtrieb, diesen StraÃenkindern, von denen sie ihn am liebsten ferngehalten hätte. Aber was die Burschen genau machten, davon hatte Mathilde keine Ahnung. Am meisten jedoch machte ihr noch etwas anderes zu schaffen. Oliver, so hatte sie geglaubt, war ein durch und durch anständiger Junge. Aber seit ungefähr zwei Wochen zweifelte sie an ihrem Glauben. Es verschwanden auf einmal Dinge aus der Wohnung. Mal ein paar Groschen aus der Dose mit dem Milchgeld, mal ein Streifen Speck, mal ein halbes Roggenbrot. Und gestern hatte Mathilde stundenlang nach zwei alten, dünn gewordenen Wolldecken gesucht, die sie eigentlich dem Krankenhaus hatte spenden wollen. AuÃerdem hätte sie schwören können, dass von der letzten Kohlelieferung einiges mehr verschwunden war, als sie verbraucht hatte.
Gut, sagte sie sich, der Schaden war nicht besonders groÃ. Dennoch bereiteten ihr diese Vorkommnisse immer gröÃeren Kummer.
Und wenn ich mit ihm nicht zu Rande komme?, dachte sie niedergeschlagen. Vielleicht bin ich ja zu alt, um mit so einem Jungen fertig zu werden. Er wächst mir jetzt schon über den Kopf.
Mathilde Voss war keine Frau, die sich so leicht entmutigen lieÃ, aber inzwischen fragte sie sich, ob sie sich mit der Erziehung des Jungen nicht zu viel vorgenommen hatte. Wenn er nun auf die schiefe Bahn geriet? Und sie, Mathilde Voss, die nur sein Bestes wollte, wäre schuld daran. Welch eine Schande!
Sie hätte versagt. Der Gedanke allein war unerträglich.
In ihrer Not überlegte sie, wen sie um Hilfe bitten konnte. Greta kam nicht in Frage, die hatte zu viele eigene Sorgen. Für Gerlinde Freesen galt dasselbe. Mathilde hatte die patente Frau in diesen Wochen schätzen gelernt, aber auch sie hatte mit ihrer Familie genug um die Ohren.
Die Frauen in ihrem Haus schienen Mathilde ebenfalls nicht geeignet. Zwar begegneten ihr die Matronen inzwischen um einiges freundlicher als früher, und sie hatte schon das eine oder andere Mal aufgeschnappt, dass man sich nicht mehr nur die Mäuler über sie zerriss, sondern sie im Gegenteil bewunderte, weil sie sich des armen Waisenknaben angenommen hatte. Doch ins Vertrauen ziehen mochte Mathilde keine von ihren Nachbarinnen. Wer wusste schon, ob dann der Klatsch nicht neue Nahrung bekäme.
Als sie nun gar nicht mehr weiterwusste, sah Mathilde eines Tages den Einspänner von Dr. Hausmann vorbeifahren. Da kam ihr ein Einfall, der sie erleichtert aufseufzen lieÃ. Sie wollte den alten Doktor um Rat fragen. Er sollte Oliver untersuchen, und danach würde sie ihn um ein Gespräch bitten. Ein so kluger Mann wie er würde wissen, was zu tun war.
Oliver schlang gerade seinen Haferbrei hinunter, als Mathilde ankündigte: »Morgen Abend kommt Dr. Hausmann zu uns.«
»Warum?«, fragte Oliver mit vollen Backen.
»Du sollst noch einmal untersucht werden. Er will deine Lunge abhören, damit wir sicher sein können, dass du auch wirklich ganz gesund bist.« Das war zumindest die halbe Wahrheit.
Oliver zuckte mit den schmalen Schultern. »Meinetwegen, aber ich weià auch so, dass ich gesund bin. Ich fühle mich doch ganz wohl.«
Aber dünn bist du, dachte Mathilde. Dünn und blass. Sie wandte sich ab, damit er die Sorge in ihren Augen nicht sehen konnte, und als sie sich wieder umdrehte, war sein Teller schon wieder leer.
»Haferbrei«, knurrte Paul. »Kann dir deine neue Mutter nicht mal was anderes zum Frühstück machen? Zum Beispiel Spiegeleier mit Speck?«
Harry und Olaf sagten nichts, sondern tauchten ihre schmutzigen Hände gierig in die Holzschale mit dem Brei, der inzwischen kalt und pampig geworden war. Ihnen warâs egal. Hauptsache, sie bekamen etwas in den ständig knurrenden Magen.
Oliver war froh, dass die Holzschüssel in seinem Ranzen diesmal nicht umgekippt war. Gestern hatte ihn das Fräulein Lehrerin ziemlich schief angeschaut, als er zur Rechenstunde erst mal kalten Brei von seinem Kreidegriffel kratzen musste. Nun, heute würde das Fräulein gar nichtssagen, denn heute würde er nicht zur Schule gehen. Das würde natürlich mächtigen Ãrger geben, aber Oliver war das gleich. Dies war ein wichtiger Tag. Der Tag, an dem er Leni retten würde.
»Morgen bitte ich Mathilde um Pfannkuchen mit
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