Die Tortenkönigin: Roman (German Edition)
wählte ich Marcels Nummer. Er ging sofort ans Telefon, murmelte »Warte kurz«, und dann hörte ich, wie er ein Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss, denn die laute Musik, die im Hintergrund dröhnte, wurde deutlich leiser.
»Helene, wie geht es dir?«, fragte er sofort.
»Gut«, erwiderte ich knapp, »ich will mich nur versichern, dass Leon hier nicht auftaucht.«
Marcel lachte leise. »Das ist nicht zu befürchten, der säuft sich hier gerade ins Koma, während er sich zum hundertsten Mal seine eigene CD anhört und lautstark sein Schicksal beweint.« Er seufzte. »Er geht mir furchtbar auf die Nerven.«
»Er beweint sein Schicksal? Er geht dir furchtbar auf die Nerven? Was seid ihr eigentlich für Jammerlappen?«
»Na ja, er ist schon ganz schön besoffen und lallt mir die Ohren voll damit, wie toll du bist und dass er den größten Fehler seines Lebens gemacht hat und nie wieder untreu sein wird, wenn du ihm verz…«
»Stopp, sprich es nicht aus«, fuhr ich ihm ins Wort. »Dann wird es dich freuen zu hören, dass deine Leidenszeit morgen Mittag schon vorbei sein wird.«
»Was … was hast du vor?«
»Ich nehme meine Sachen, steige in einen Zug und fahre weg von hier. Er kann dann wieder in die Wohnung. Ich nehme alles mit, was mir wichtig ist, mir muss nichts nachgeschickt werden. Ich wünsche keinerlei Kontakt, sag ihm das.«
»Okay«, meinte Marcel kleinlaut.
»Und schließ ihn ein. Nicht, dass er mitten in der Nacht wach wird und sich auf den Weg hierher macht. Dann gibt es ein Unglück. Wenn er hier auftaucht, rufe ich die Polizei, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das willst.«
»He …«, begann er, aber ich ließ ihn nicht ausreden.
»Mach’s gut, Marcel. Danke, dass du mir gestern Gesellschaft geleistet hast.«
Ohne seine Erwiderung abzuwarten, legte ich auf. Mir war gerade nicht nach Höflichkeit und Verständnis Marcel gegenüber. Wenn ich ehrlich war, nahm ich ihm doch übel, dass er mir nie etwas gesagt hatte.
Ich kochte mir eine Kanne Tee, und dann packte ich meine Koffer. Den größeren füllte ich mit der Kleidung, die ich nicht in den Müllsack geworfen hatte, den anderen mit Küchenutensilien.
Den Abend und die Nacht verbrachte ich damit, mich von der Wohnung zu verabschieden. Ich saß, in eine dicke Decke gewickelt, lange auf unserem winzigen Balkon und lauschte den vertrauten Geräuschen der Nacht: hupenden Autos, Gesprächsfetzen von anderen Balkonen, Musik aus geöffneten Fenstern. Später lag ich zusammengerollt auf dem Bett. Ich weinte die ganze Nacht.
Am Morgen ging ich zur Bäckerei drei Häuser weiter und kaufte mir ein paar Croissants. Jede Sekunde lang war mir bewusst, dass ich dies zum letzten Mal tat, unser Treppenhaus hinunterlaufen, durch die große, altmodische Flügeltür auf die Straße treten, dann links ein paar Meter bis zum Schaufenster der kleinen Boulangerie, bei dessen appetitlicher Auslage mir immer sofort das Wasser im Mund zusammenlief, durch die Ladentür mit der Bimmel hinein in den warmen Duft frischer Backwaren, der mir seit frühester Kindheit so vertraut war.
Zu Hause machte ich mir eine große Schale Milchkaffee und setzte mich an den Tisch. Während ich die köstlichen Croissants in den Kaffee tunkte und aß, sah ich mich um. Die Wohnung wirkte unbewohnt und tot, seit ich gestern alle äußerlichen Zeichen unserer Liebe vernichtet hatte.
Meine Koffer standen gepackt und verschlossen an der Tür, meine Umhängetasche lag auf dem Sofa, das Taxi war bestellt.
Als ich mit meinem Frühstück fertig war, wischte ich die Blätterteigkrümel vom Tisch und spülte die Kaffeeschale, die ich dann abgetrocknet zurück in den Schrank stellte. Wenn Leon in diese Wohnung kam, würde er keine Spur von mir finden. Den prallvollen Müllsack hatte ich im Hinterhof zu den Mülltonnen gestellt.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass der Taxifahrer jeden Moment klingeln würde. Es konnte nichts schaden, schon auf die Straße zu gehen, fand ich.
Ich zog meine Jacke an, legte meine Schlüssel für dieses Haus auf den Küchentisch und überprüfte noch einmal den Inhalt der Umhängetasche: Fahrkarte, Portemonnaie, Handy, Papiere – alles da. Dazu all die Kleinigkeiten, die sonst noch in dieser Tasche wohnten, von Papiertaschentüchern bis zu Pfefferminzpastillen. Ich war gerüstet.
Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel, war ich erleichtert und erschrocken zugleich. Ich war draußen, die Schlüssel waren drinnen. Ich blieb
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