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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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bißchen verwirrt aus, als ich sie gestern morgen nach
    seiner Adresse fragte.«
    Er stieß langsam seinen Atem aus.
    »Als ob sie einen schlechten Geschmack im Mund hätte«, sagte
    ich. »Wie nach einer Beziehung, die häßlich in die Brüche gegangen
    ist. Bin ich zu deutlich?«
    Seine Nasenflügel schienen leicht zu zittern, und man hörte für ei‐
    nen Augenblick seinen Atem. Dann wirkte er wieder entspannt und
    sagte ruhig:
    »Sie… sie kannte ihn ziemlich gut – früher mal. Sie ist eine Frau, die tut, was ihr Spaß macht, sozusagen. Und Lavery war vermutlich
    ein anziehender Typ – für Frauen.«
    »Ich muß mit ihr sprechen«, sagte ich.
    »Wozu?« fragte er kurz. Seine Wangen hatten rote Flecken.
    »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Es gehört zu meinem
    Geschäft, allen möglichen Leuten alle möglichen Fragen zu stellen.«
    »Reden Sie also mit ihr«, sagte er gepreßt. »Ich muß Ihnen sagen,
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    daß sie eine Bekannte der Almores war. Vor allem eine Bekannte von Almores Frau. Ich habe Ihnen erzählt, daß die sich umgebracht
    hat. Sie war auch eine gute Bekannte von Lavery. Hängt das vielleicht mit Ihren Fragen zusammen?«
    »Ich weiß nicht. Sie lieben sie, nicht wahr?«
    »Ich würde sie schon morgen heiraten, wenn das möglich wäre«,
    sagte er steif.
    Ich nickte und stand auf. Ich sah wieder auf die Bibliothek. Sie war
    jetzt fast leer. In einer entfernten Ecke stießen ein paar uralte Fossili-en immer noch ihr Gurgeln in die Luft. Der Rest der Sesselschläfer
    war inzwischen zu den Beschäftigungen aufgebrochen, denen sie
    nachgingen, wenn sie nicht hier herumschnarchten.
    »Da ist noch eine Sache«, sagte ich und sah zu Kingsley hinunter.
    »Die Bullen werden ziemlich sauer, wenn man sie erst so spät nach
    einem Mord verständigt. Ich bin jetzt schon ziemlich spät dran, und
    es wird noch später werden. Ich möchte es so drehen, daß das nach‐
    her wie mein erster Besuch aussieht. Das müßte hinzukriegen sein,
    wenn ich Mrs. Fallbrook aus der Geschichte raus lasse.«
    »Fallbrook?« Er wußte kaum, worüber ich sprach.
    »Wer, zum Teufel… ach ja, jetzt erinnere ich mich.«
    »Erinnern Sie sich besser nicht. Ich bin fast sicher, daß sie keinen Piep mehr von sich geben wird. Sie gehört nicht zu den Leuten, die
    freiwillig was mit der Polizei zu tun haben wollen.«
    »Ich verstehe«, sagte er.
    »Dann versuchen Sie auch richtig zu reagieren. Man wird Ihnen
    Fragen stellen, bevor man Ihnen sagt, daß Lavery tot ist, und bevor
    man mir gestattet, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, soweit
    das in deren Macht steht. Tappen Sie nicht in irgendwelche Fallen.
    Denn wenn Sie’s tun, dann kann ich nichts mehr herausfinden. Weil
    ich dann nämlich im Kittchen sitze.«
    »Aber Sie hätten mich vom Haus dort telefonisch verständigen
    können, bevor Sie die Polizei angerufen haben«, sagte er überlegt.
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    »Ich weiß. Aber es sieht besser für mich aus, wenn ich Sie nicht verständigt habe. Und rausfinden, was für Telefongespräche geführt
    wurden, gehört zu den ersten Untersuchungen. Und wenn ich Sie
    von woanders angerufen hätte, könnte ich ebensogut gleich
    zugeben, daß ich Sie hier besucht habe.«
    »Ich verstehe«, sagte er wieder. »Sie können sich auf mich verlas‐
    sen.«
    Wir schüttelten uns die Hände, und ich verließ ihn.

    Der Athletic Club war an einer Ecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite ungefähr einen halben Block vom Treloar Building entfernt. Ich überquerte die Straße und ging in nördliche Richtung auf
    den Eingang zu. Die Arbeit am Gehsteig war beendet, die Gummi‐
    platten waren durch rosafarbenen Zement ersetzt. Der Gehweg war,
    bis auf einen schmalen Gang zum Gebäude, abgezäunt. Hier dräng‐
    ten sich Büroangestellte, die von ihrer Mittagspause zurückkamen.
    Der Empfangsraum der Gillerlain Company sah eigentlich noch
    leerer aus als am Tag zuvor. Dieselbe federleichte kleine Blondine war in ihre Ecke an der Telefonvermittlung eingenäht. Sie schenkte
    mir ein rasches Lächeln, und ich schenkte ihr dafür den Gruß der Revolverhelden: einen ausgestreckten Zeigefinger, der auf sie deutete, die drei anderen Finger drunter zur Faust gekrümmt und einen auf‐ und zuschnappenden Daumen – ein kämpfender Cowboy, der
    seinen Colt bearbeitet.
    Sie lachte herzlich, aber lautlos. Mehr Spaß hatte sie hier in einer ganzen Woche nicht.
    Ich zeigte auf Miss Fromsetts leeren Schreibtisch, und die kleine Blondine nickte, stöpselte einen

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