Die tote Schwester - Kriminalroman
Julius Mendelstein im Haus war. Zu Hause war, musste Zbigniew denken.
Er eilte in die Bibliothek.
Sofort nachdem sie sich begrüßt hatten, fragte er nach Lion Seeliger.
Mendelstein lächelte.
»Ein sehr reicher Mann, bevor die Nazis kamen. Einer der Kaufhauskönige des Landes. Und auch noch sozial engagiert.«
»In Aachen.«
»Nicht nur in Aachen. Insgesamt hatte er bestimmt zehn Kaufhäuser in verschiedenen Städten. Kurzwaren, Textilien, Haushaltswaren … Bis die Nazis ihm alles weggenommen haben. Und ihn nach Auschwitz geschickt haben.«
»Nach Auschwitz?«, fragte Zbigniew geschockt.
Mendelstein nickte. Was hatte Zbigniew erwartet?
»Besteht irgendeine Möglichkeit, dass Lion Seeliger und Gideon Weissberg sich kannten? Oder er und Paul Streithoff?«, fragte Zbigniew.
Mendelstein brach nun in ein deutlich hörbares Lachen aus. Zbigniew begriff nicht. Der Archivar erhob sich und ging zu einem der Bücherregale. Er suchte einige Sekunden, dann nahm er ein Buch heraus.
»Einen Moment«, sagte er, blätterte in dem schmalen Band, während er sich wieder hinsetzte. Bald hatte er die Seite gefunden, die er suchte, und schob Zbigniew das Buch unter die Nase.
»Sehen Sie, da«, sagte Mendelstein.
Zbigniews Blick fiel sofort auf eine Anordnung von Porträtfotos sieben gut gekleideter Herren, in Schwarz-Weiß, untereinander mit Pfeilen verbunden.
Gideon Weissberg.
Erstmals hatte Zbigniew ein Bild von ihm. Es war ein seltsames Gefühl, sich so lange mit einem Menschen befasst zu haben, ohne ein Bild von ihm zu haben. Gideon Weissberg sah viel jünger aus, als er es sich vorgestellt hatte. Gepflegt, fast hübsch.
Es war für die Ermittlung irrelevant, und doch.
Oder war es nicht irrelevant? Sollte er das Bild kopieren, sollte er es vielleicht der alten Dame in Stommeln zeigen?
Nein, Weissberg konnte es nicht selbst gewesen sein.
Zbigniew versuchte sich Samuel Weissberg vor sein geistiges Auge zu führen. Suchte nach einer Ähnlichkeit zwischen Gideon und Samuel.
Er war sich nicht sicher.
Lena, sie hätte aufgrund der Bilder sofort irgendetwas erkannt. Sie war gut im Lesen von Gesichtern.
Zbigniew folgte dem Pfeil, der von Gideon Weissbergs Foto zu einem Kasten führte. »Verein Jüdischer Kaufleute (Rheinland)«, stand in dem Kasten. Gideon Weissberg war als Vorstandsvorsitzender des Vereins bezeichnet.
Zbigniew betrachtete die anderen Fotos.
Dort war er.
Lion Seeliger, der Schatzmeister.
Sie waren gemeinsam im Kopf des Vereins. Es lag auf der Hand: Irgendwie war das Gemälde von Seeliger zu Gideon Weissberg gelangt. Das von den Nazis konfiszierte Bild, das verschollen war.
Zbigniew bemerkte, dass er ein wenig zitterte.
»Wissen Sie mehr über die Verbindung Weissberg – Seeliger?«
»Nicht viel. Es ist ja alles Private vernichtet worden, nachdem die Gestapo die Wohnungen der Juden ausgeräumt hatte.«
»Kann es sein, dass es auch eine Verbindung zu Paul Streithoff gab?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was war Seeliger so für ein Mensch? Er hatte eine große Gemäldesammlung, soweit ich weiß. Können Sie mir etwas darüber erzählen?«
»Er war einer der großen Donatoren des Wallraf-Richartz-Museums. So wie Josef Haubrich oder später Peter Ludwig und Gérard Corboud. Seeliger war einer der großen Kunstliebhaber und Sammler hier im Rheinland. Das hatte bei ihm auch immer soziale Ziele, er war der Ansicht, dass den Angestellten und Arbeitern das Betrachten von Kunstgegenständen möglich sein sollte, zur Entspannung. Er war einer der großen Verfechter der Museumsidee. Und dafür hat er viel getan, er hat unzählige Expressionisten und andere moderne Maler ins Museum gebracht, sodass auch die einfachen Leute einen Zugang dazu hatten. Leider … «
Mendelstein machte eine Pause.
»Leider waren das dann genau die Gemälde, die den Nazis nicht gefielen. Die haben sie schon früh aus den Museen herausgerissen. Und deshalb gibt es heute keine Sammlung Seeliger mehr in den Kölner Museen.«
»Ist da nichts von übrig geblieben?«
»Nicht am Stück, soweit ich weiß. Vereinzelt, einzelne Gemälde sind wieder aufgetaucht. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Verlust war? Die Bilder wurden zum großen Teil zerstört, teilweise in alle Welt verkauft, ein unglaublicher Kulturschatz. Nur weil der große Führer die Bilder für ›entartet‹ hielt. Weil er am liebsten realistisch gemalte Hirsche vor Berglandschaften betrachtete. Da ist so manches künstlerische Lebenswerk zugrunde
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