Die tote Schwester - Kriminalroman
vernehmungsfähig ist. Wobei der gefesselt war, Augen verbunden, Nadelstiche, sogar einen Kopfhörer mit Musik hatten sie ihm aufgesetzt – klang so, als ob der wohl nicht viel mitbekommen hat von der Entführung.«
»Hätten Sie mich nicht sofort anrufen können?«
»Ich hab’s ja auch grad erst erfahren. Seien Sie doch froh, dass Sie es überhaupt erfahren. Solange die Observation dort läuft, sollte ja wirklich niemand davon wissen. Da kann ich sogar verstehen, wenn die Kollegen da sauer sind.«
Lachmann hatte recht. Er selbst wäre auch sauer gewesen.
»Ja.«
»Also, ich muss noch was arbeiten. Viel Erfolg weiterhin.«
»Ja. Vielen Dank.«
Sie legten auf.
Mendelstein und die alte Dame kamen auf ihn zu, mit zwei großen Tüten.
»Wir haben die Bücher hier reingepackt, weil wir jetzt zumachen. Und eine DVD über die Zeit, die ist ganz neu, mit ganz vielen historischen Aufnahmen.«
Zbigniew sah die beiden matt an.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte die alte Dame besorgt.
Zbigniew nickte.
Es war alles in Ordnung, und es ging ihm gut.
Sie hatten Samuel Weissberg gefunden.
Sie hatten ihn gefunden, und er war entführt worden.
Entführt, wie Lena.
15
Zbigniew traf Dieter Weber in der Alten Feuerwache. Er hatte in der Bibliothek so viel darüber gelesen, dass er nun das Bedürfnis verspürte, sich diesen alltäglichen Ort mit seinem hinzugewonnenen Wissen neu anzuschauen. Alles um ihn herum wirkte harmlos: Der schluffig wirkende Kellner, der eher angespornt werden musste, damit man ein Bier von ihm erhielt; ein paar spielende Kinder rund um eine in der Mitte des Hofs stehende Linde; die nach alternativem Jugendzentrum aussehende Wandbemalung auf der anderen Seite des Hofs. Der Prototyp dessen, was manche ein soziokulturelles Zentrum nannten. Kaum vorstellbar, dass an diesem Ort derartige Verbrechen geschehen waren.
Die ganze Stadt war voll von derartigen Orten, wenn man genauer hinsah.
Zbigniew verschwieg Dieter Weber die Neuigkeiten von Lachmann. Er durfte es überhaupt niemandem erzählen, Lachmann hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt, ihm diese vertraulichen Informationen auch noch per Telefon zu geben. So weit, dass es Zbigniews vollständige Loyalität verdiente. So weit, dass er sogar seinen ersten Impuls, Jack Rosenfeldt direkt wieder anzurufen und sich zu entschuldigen, unterdrückt hatte.
Dieter Weber fragte nicht nach seinen Ermittlungen. Und obwohl Zbigniew ihm mittags beim Chinesen angekündigt hatte, davon zu erzählen, kam es nicht dazu.
Nein, sie sprachen über ganz andere Dinge.
Dieter Weber war früher jahrelang szenekundiger Beamter gewesen, das Bindeglied der Polizei zur Halblichtszene rund um den Eigelstein. Kein leichter Job, dennoch hatte sich Dieter Weber großen Respekt bei den Drogenabhängigen, Prostituierten und Zuhältern erworben. Ihn selbst hatte es dennoch ein wenig aufgerieben. Es waren nicht die Gewalttaten, die ihn verstört hatten, nein; zu viel persönliches Leid hatte er hinter den unscheinbaren Häuserwänden und an den Straßenecken miterlebt.
»Ich werde bald aufhören«, sagte er zu Zbigniew, nachdem er das erste Mal sein Kölschglas abgesetzt hatte.
»Was? Wieso, fehlt dir das Straßenleben?«
»Nein, ganz und gar nicht. Aber irgendwie muss ich aus der Stadt raus. Irgendwohin, wo es … lieblicher ist. Idyllischer.«
»Meinst du, dass du da glücklich wirst?«
Dieter Weber zuckte die Achseln.
»Hier werde ich es auf jeden Fall nicht mehr. Jeden Tag, wenn ich unten am Eigelstein an diesen Kneipen vorbeigehe und die jungen Dinger sehe, die die aus dem Osten rübergeholt haben, kommt mir das kalte Kotzen.«
Zbigniew nickte. Vor vielen Jahren hatte sich Dieter Weber in eines dieser Mädchen verliebt, so viel wusste er. Er kannte nicht die genauen Details, aber die Geschichte hatte unschön geendet.
Silvia Pütz würde sie kennen.
»Du bist anders«, sagte Dieter Weber. »Du befasst dich nicht mit dem ganzen kleinen Scheiß, dem ganzen kleinen Elend an jeder Ecke. Du ziehst immer nur die großen Sachen an.«
Zbigniew nahm einen Schluck Bier, sah ihm irritiert in die Augen. Er war sich nicht sicher, ob hier ein Vorwurf versteckt war.
Dieter sprach weiter.
»Du ziehst die großen Sachen an wie ein beschissener Magnet, und dann marschierst du da durch.«
Eine Gesprächspause entstand.
»Ich hab mir das nicht ausgesucht«, sagte Zbigniew schließlich.
»Nein. Was können wir uns schon aussuchen im Leben.«
Zbigniew nickte.
Sie tranken ihre Gläser
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