Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
wissen gar nichts. Henriette hat wichtige Arbeit geleistet, und ihr Tod wird einfach unter den Teppich gekehrt. Deshalb habe ich mit Vera gesprochen. Wenn Jette ein Mann gewesen wäre …«
»Ja, ja, das alte Lied«, erwiderte Alice ungehalten. »Die Polizei wird nicht begeistert sein von Veras Artikel. Und ich bin es auch nicht. ›Engel der Frauen‹, das ist sentimentaler Unsinn.«
»Ich weiß. Aber ihr Tod ist jedenfalls kein Geheimnis mehr«, erwiderte Grete beharrlich. »Vielleicht gibt es Leute, mit denen die Polizei noch nicht gesprochen hat und die den Beamten bei den Ermittlungen helfen können.«
Alice ging schweigend auf und ab. Es war ihr nicht recht, dass man sich nun öffentlich über Henriette den Mund zerreißen würde. Andererseits war es wirklich fast so, als hätte es Jette nie gegeben, als wäre sie aus diesem Leben verschwunden, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.
»Vielleicht sollten wir einmal bei ihrer Familie anrufen und uns erkundigen, wann mit der Beerdigung zu rechnen ist«, meinte sie versöhnlich.
»Ist das nicht zu aufdringlich?«
»Das finde ich nicht. Ihr Neffe wird sich bestimmt freuen, wenn er merkt, dass es Menschen gibt, denen sie wichtig war. Sie hat doch immer so stolz von ihm gesprochen.«
»Der Kriminalkommissar, mit dem wir geredet haben, war eigentlich ganz nett. Vielleicht kann er uns sagen, wann der Leichnam freigegeben wird«, schlug Grete vor. »Ich finde es unangenehm, bei der Familie nachzufragen, wir kennen sie doch gar nicht.« Sie überlegte. »Allerdings wird er uns vermutlich nichts sagen, die Polizei ist in solchen Dingen sehr zugeknöpft.« Als Anwältin sprach Grete aus Erfahrung.
»Ob er noch so freundlich ist, nachdem er den Artikel gelesen hat, wage ich zu bezweifeln«, meinte Alice und zitierte: »›Sonderbar hingegen erscheint die Tatsache, dass die Polizei bisher nichts über den Fall hat verlauten lassen. Es fand keine Pressekonferenz statt wie sonst bei Mordfällen, die von allgemeinem Interesse sind. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die polizeilichen Ermittlungen bislang fruchtlos verlaufen sind.‹«
Grete zuckte mit den Schultern. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Vera es als Kritik an der Polizei aufziehen würde.« Vera Kant war eine alte Bekannte, die als Journalistin bei der ›Morgenpost‹ arbeitete und auch zu ihrem Kreis gehörte.
»War das ihre Idee mit dem Artikel?«, fragte Alice.
Grete nickte. »Eigentlich ging es gar nicht um Jette. Sie wollte etwas Juristisches klären und erkundigte sich beiläufig, wie es uns allen gehe. Da habe ich es ihr erzählt. Sie war außer sich, weil keine Zeitung darüber berichtet hatte.«
»Das Wenige, was wir wissen, hat sie ganz schön aufgeblasen«, erwiderte Alice säuerlich. »Nun denn, das ist wohl nicht mehr zu ändern.«
Gewöhnlich ging Leo gerne zu Gennat. Diesmal aber … Die rohe Gewalt, die auf den Straßen geherrscht hatte und immer noch herrschte, ließ sich nicht mit den Taten der Berufskriminellen vergleichen, mit denen sie es gemeinhin zu tun hatten. Wer seinen Unterhalt mit Stehlen und Rauben, mit Fälschen und Betrügen verdiente, wurde verfolgt und bestraft. Als Polizist stand man zwangsläufig auf der richtigen Seite.
Heute aber hatte die Polizei sich auf die Seite des Unrechts geschlagen. Leo wusste nicht, ob die Schupos auf Anweisung oder aus einem Impuls heraus gehandelt hatten. Womöglich hatten sie die jüdischen Frontkämpfer tatsächlich als Rechtsbrecher empfunden. Das entschuldigte allerdings nicht ihre Untätigkeit angesichts der Gewalttaten auf den Straßen. Leo schämte sich plötzlich, Polizist zu sein, und war insgeheim froh, keine Uniform zu tragen.
Er klopfte, und Trudchen Steiner winkte ihn durch. Gennat thronte auf seinem durchgesessenen Sofa, vor sich das obligatorische Stück Torte. »Auch eins, Wechsler?«
Plötzlich wurde Leo bewusst, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, und er nickte. »Danke, gern.«
»Schwarzwälder Kirsch?« Er schaufelte Leo ein Riesenstück auf den Teller und schob ihn über den Tisch.
»So, dann erzählen Se mal. Ich habe vorhin einen Anruf von Richter persönlich erhalten: Seit wann sich meine Kriminalbeamten in die Aufgaben der Schutzpolizei einmischen würden, wollte er wissen. Warum Sie sich im Scheunenviertel herumtreiben, statt den Fall Strauss zu bearbeiten. Angeblich sollen Sie Leute mit der Waffe bedroht haben.«
Leo schluckte den Bissen Sahnetorte und eine spontane
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