Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Antwort hinunter. Erst überlegen, dann reden. »Ich bin mit dem Kollegen Sonnenschein hingegangen, weil sein Vater ins Präsidium gekommen war. Man hatte ihn auf offener Straße vor seinem Laden misshandelt. Dass ich die Waffe gezogen habe, war unklug, das gebe ich zu. Aber, Herr Gennat, ichweiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, was gerade auf den Straßen im Scheunenviertel passiert. Dort herrscht der Mob. Plünderungen, Prügel, Sachbeschädigung, Menschen werden durch die Straßen gejagt wie Hunde. Und die Schutzpolizei bleibt untätig.«
»Das ist kein Fall für uns, Wechsler.«
Leo senkte den Blick. »Ich weiß.«
»Mehr haben Sie nicht zu sagen?«
»Eigentlich nicht, Herr Gennat. Vielleicht noch, dass ich mich heute für meinen Beruf geschämt habe.«
Gennats massiger Körper zuckte zusammen. »So schlimm, Wechsler?«
Leo nickte. »Die Presse wird nicht freundlich mit uns umgehen. Es ist Unrecht geschehen, und die Polizei hat es nicht verhindert.«
Gennat lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Er hatte die Augen fast geschlossen, als würde er schlafen, doch Leo kannte den Ausdruck. Gennats Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
»Sie wissen, dass Sie Feinde im Präsidium haben. Aber Richter ist ein vernünftiger Kerl, wenn auch kein Polizist oder Jurist. Wenn Sie den Fall Strauss zügig aufklären, sind diese Eskapaden vergessen. Das muss jetzt vorangehen. Die Presse hat Lunte gerochen.«
Erleichtert brachte Leo ihn auf den neuesten Stand.
»Finden Sie die Flasche. Und machen Sie Druck auf die Familie, wenn Sie glauben, dass die etwas verschweigt. Sonst heißt es in der Presse wieder, wir täten nicht genug. Sie wissen, wie sehr ich nasse Fische hasse.«
So hießen im Jargon die ungelösten Fälle.
»Ja, Herr Gennat.«
»So, Wechsler, und jetzt nehmen Sie noch einen Bienenstich, Sie sehen ja halb verhungert aus.«
Als Leo sich endlich auf den Nachhauseweg machte, blieb er unterwegs mehrmals stehen und schaute sich verwundert um. War dies noch derselbe Tag, der mit dem versuchten Diebstahl in der Milchhandlung begonnen hatte? Es kam ihm vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Hier in Moabit schien niemand etwas von den Vorfällen im Scheunenviertel zu ahnen. Doch das, was er heute mit angesehen hatte, ließ Leo nicht los.
Er hätte gern mehr getan, hatte aber auch so schon seine Stellung in der Burg gefährdet. Er ahnte, wer Richter von seinem Alleingang erzählt hatte. Von Malchow war dabei gewesen, als Sonnenscheins Vater aufgetaucht war.
Er würde Gennat vorschlagen, eine Pressekonferenz abzuhalten; vielleicht würden sich konkrete Hinweise ergeben, wenn sie die Öffentlichkeit informierten.
Leo war froh, als er zu Hause ankam. Die Kinder freuten sich, ihn zu sehen, und er konnte die Ereignisse des Tages wenigstens vorübergehend beiseiteschieben. Sie setzten sich alle gemeinsam an den Esstisch. Eine Nachbarin hatte Ilse im Tausch gegen eine Karte Knöpfe zwei Pfund Kartoffeln mitgebracht, die Ilse in einer Hefesuppe mit einer Zwiebel und etwas Petersilie gekocht hatte. Dazu gab es ein großes Graubrot, und Leo schaute seine Schwester überrascht an.
»Hast du lange dafür anstehen müssen?«
Ilse schüttelte den Kopf und wirkte plötzlich verlegen. Leo schnitt sich eine Scheibe Brot ab und tunkte sie in die Suppe. Sie aßen schweigend, nur Marie blickte unsicher von einem zum anderen.
»Seid ihr böse miteinander?«
»Nein, Liebes, warum?«, fragte Leo.
»Weil ihr nichts sagt, Vati.«
»Wir essen. Dabei müssen wir nicht die ganze Zeit reden.« Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen dachte er an die Torte, die Gennat ihm spendiert hatte.
»Ach so. Ich dachte schon, das wäre, weil Tante Ilse das Brot geschenkt bekommen hat.«
Leo legte den Löffel beiseite und schaute seine Schwester an. »Möchtest du mir etwas erzählen?«
Später ging er noch einmal zu Clara. Eigentlich war es zu spät, und der Tag saß ihm in den Knochen, doch Ilses Verhalten hatte wieder einmal zum Streit geführt.
Sie hatte ihrem Bruder überdeutlich die Meinung gesagt. »Ich will nicht, dass du mir eine Stelle suchst. Ich will auch nicht, dass du dir ständig Gedanken über mich machst. Mein Leben lang haben andere über mich bestimmt. Ich habe nie allein entscheiden können, so wie Clara. Sie versteht mich.«
Als er bei Clara auf dem Sofa saß, stützte er den Kopf in die Hände und seufzte. So müde war er lange nicht gewesen, er konnte gar nicht mehr klar denken.
Clara
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