Die Tote von Harvard
der Normalbürger denkt, gibt man ihm auch nur die kleinste Chance.«
»Dann hat sie also jemand, als sie schon tot war, in eine Kabine der Herrentoilette geschafft?«
»So ist es.«
»Aber warum? Ja, ja, ich weiß schon, um sie in Verruf zu bringen. Um symbolisch klarzumachen, daß sie in männliches Territorium eingedrungen war. Arme Janet, wo sie doch Frauen, die das wollten, so verachtet hat. Das Leben ist unfair. Und der Tod auch. Hat der Polizist verstanden, was dein Gerede über Frauen mit Professur in Harvard sollte?«
»Nein, nicht richtig. Die Polizei interessiert sich natürlich mehr 63
dafür, woher das Gift kam; außerdem hat sie vor allem ein Interesse daran, Harvard so wenig wie möglich in Aufruhr zu versetzen. Sag was du willst über den Antagonismus zwischen Staat und Wissenschaft. Ich bin mir sicher, daß hier, ab einer bestimmten Ebene jedenfalls, der Professorentalar sich den Stadtsäckel kaufen kann und bestimmt, welche Melodie gespielt wird. Das Ganze ist eine Frage von Macht. Ich gehöre natürlich zu den Verdächtigen, aber alle anderen vom Fachbereich Anglistik auch, was ein kleiner Trost ist. Beun-ruhigend finde ich dagegen, daß auch Luellen May und die Schwestern zum Kreis der Verdächtigen gehören. Der Polizist jedenfalls hat deutlich zu verstehen gegeben, daß er nicht damit rechnet, einen Professor von Clarkvilles Rang festnehmen zu müssen, wodurch die Sache noch schwärzer aussieht für die Schwestern.«
»Wahrscheinlich hat er recht«, sagte Sylvia. »Harvard hatte schon immer Mittel und Wege, mit seinen Frauen fertig zu werden –
ohne sie umzubringen.«
»Na, ich weiß nicht. Dieser neue Lehrstuhl erschien offenbar vielen als der Anfang vom Ende der alten Harvard-Verhältnisse. Wer, außer Harvards Fachbereich Anglistik, wo es nie eine Frau mit einem Lehrstuhl gab und wo man um keinen Preis eine haben wollte, hätte etwas durch Janets Tod gewinnen können? Ich weiß, daß die Polizei sich nicht allzu sehr um Motive schert, aber mich interessieren sie. Wer sonst hätte etwas davon gehabt, Janet loszuwerden?«
»Was ist mit den Frauen aus dem Café in der Hampshire Street?«
fragte Sylvia.
»Aber aus welchem Motiv? Ihnen lag daran, daß die Janet-Luellen-Badezimmergeschichte aus der Welt geschafft wurde, aber doch nicht Janet!«
»Sie hatten sich ziemlich auf Janet eingeschossen. Überleg doch, bis nach New York haben sie diese Frau – wie hieß sie noch? – geschickt.«
»Joan Theresa.«
»Stimmt, Joan Theresa.«
»Und Jocasta.«
»Wer?«
»Vergiß es«, sagte Kate. »Ich schweife ab. Ist dir übrigens klar, daß ich absolut nichts über Harvards Fachbereich Anglistik weiß?
Da ich bisher kein Vorlesungsverzeichnis auftreiben konnte, weiß ich noch nicht einmal die Namen der Dozenten und Professoren. Als ich dem Polizisten meine Position hier zu erklären versuchte, sah er 64
ziemlich ratlos aus. Der arme Kerl wußte einfach nicht, wo er mich unterbringen sollte, und erst recht nicht, warum Clarkville mich als erste von Janets Tod verständigt hat.«
»Daß es außer dir niemanden gab, den er hätte anrufen können, zeigt mal wieder die Lage der armen Janet hier«, sagte Sylvia. »Aber Moon hätte er doch Bescheid sagen können, fällt mir gerade ein.«
»Clarkville wird kaum von Moon gewußt haben. Du weißt ja auch nur durch mich von ihm. Ich bin sicher, Janet hat kein Wort gesagt, und Moon schon gar nicht.«
»Welche Vermutungen Moon wohl anstellt?«
»Das werde ich zweifellos bald erfahren«, sagte Kate. »Sylvia?«
Beide schwiegen, während Sylvia Kate fragend ansah. Beide fühlten, daß etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen lag, aber nicht so, wie oft unter guten Freunden, wo jeder weiß, was der andere denkt; nein, sie fühlten sich beide plötzlich verloren, wußten nicht, was fragen und was sagen – nicht einmal, welche Gefühle Janets Tod in ihnen ausgelöst hatte. »Die Frauen hier leben in einem Niemands-land«, sagte Kate schließlich. »Sie wissen nicht, wohin sie gehören und wer ihre Verbündeten sind. Noch nicht einmal über ihre eigenen Hoffnungen sind sie sich im klaren. In New York ist das natürlich nicht anders, aber New York besteht daraus, daß niemand irgendwohin gehört, jedenfalls gilt das für die meisten.«
»Du bist traurig wegen Janet, die doch, wie es schien, das beste Los aller Frauen erwischt hatte, stimmt’s? Außerdem bist du wütend auf Joan Didion.«
»Joan Didion, die Schriftstellerin?«
»Ich hab gerade im
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