Die Tote
waren eben doch ein Mysterium. Der Mann umklammerte sie und hielt ihr die Waffe an den Kopf.
»Und du«, er meinte Bergheim, »tust am besten, was ich sage, sonst wird sie das ausbaden. Hast du verstanden?«
Das hatte Bergheim. Der Kerl ließ ihn vorausgehen. Sie gingen eine Steintreppe hinauf und kamen in einen Flur mit weißer Raufasertapete und Bildern mit Jagdmotiven an den Wänden. Bergheim sah sich um. Was war das hier? Ein verlassenes Jagdschloss? Eine offene Tür führte in einen Innenhof. Trotz seiner misslichen Lage war Bergheim froh, wieder im Freien zu sein.
Mitten im Hof erhob sich eine hohe Eiche, die den gesamten Hof beschattete und deren Stamm eine Holzbank umrundete. Der Hof wurde von Stallungen mit Fachwerkmauern begrenzt, die von zweiteiligen Türen unterbrochen waren. Bei einigen war der obere Teil der Türen geöffnet und hing schief in den Angeln. Anscheinend befanden sie sich auf einem verwaisten Pferdehof.
Welch ein idyllisches Örtchen, dachte Bergheim, der fieberhaft nach einer Fluchtmöglichkeit suchte. Aber wenn er das Leben des Mädchens nicht gefährden wollte, standen die Chancen dafür im Moment schlecht. Sie verließen den Innenhof durch einen schmalen Torbogen und kamen auf einen sandigen Hofplatz, der von Kiefern umgeben war. Das Bauernhaus schien unbewohnt, wenn auch nicht ungepflegt. Vor den Fenstern hingen weiße Stores, und leere grüne Plastikblumenkästen standen auf den Fensterbänken. Alles war still und aufgeräumt. Der Hof schien mitten im Wald zu stehen und zumindest von Zeit zu Zeit bewohnt zu sein. Vielleicht eine Art Sommerhaus. Womöglich war ihr Entführer nicht der Besitzer, und das war der Grund, weshalb man sie nicht hier an Ort und Stelle verrecken lassen konnte. Denn dass dieser Kerl nichts Gutes mit ihnen vorhatte, darüber machte sich Bergheim keine Illusionen. Er wollte sie aus dem Weg räumen.
Auf dem Hof stand ein schwarzer Mercedes-Transporter. Der Kerl blieb mit dem Mädchen einige Meter hinter Bergheim zurück. Der hatte keine Chance, ihn zu überwältigen.
»Aufmachen!«, schnappte der Mann aus sicherer Entfernung.
Bergheim gehorchte, öffnete die Schiebetür und hatte im nächsten Moment das Gefühl, das sein Schädel gespalten wurde. Bewusstlos kippte er in den Wagen.
* * *
Bremer machte sich so seine Gedanken. Charlotte war im Moment etwas neben der Spur, und er war sich nicht sicher gewesen, ob das, was sie taten, sinnvoll war. Aber er hatte sich überreden lassen. Nun saßen sie in seinem Opel und warteten. Eigentlich war es verblüffend, dass Charlotte mit ihrer abenteuerlichen Schlussfolgerung möglicherweise ins Schwarze getroffen hatte. Zwar konnte er sich nicht im Mindesten vorstellen, über welche dunklen Pfade seine Vorgesetzte zu solchen Schlüssen kam, aber auch dieses Mal tat man gut daran, ihr zu vertrauen.
Wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum sie und Ostermann immer auf Kriegsfuß gestanden hatten. Ostermann war kein Mensch, der sich auf die Intuition anderer verließ, wahrscheinlich deshalb, weil ihm selbst diese Fähigkeit völlig abging.
Verstohlen warf er Charlotte einen Blick zu. Sie sah ziemlich schrecklich aus. Aber war das ein Wunder? Bisher hatte sie sich gut im Griff gehabt. Das sagten auch die anderen im Team. Aber wenn sie ihren Kollegen nicht bald fanden … so oder so … dann wusste keiner, wie lange Charlotte noch durchhalten würde. Sie alle hofften jedenfalls, dass sie ihn heil und gesund zurückbekommen würden, auch wenn die Chancen von Tag zu Tag schwanden. An die andere Möglichkeit wollte eigentlich keiner denken. Denn Rüdiger war beliebt, nutzte seinen guten Draht zur Teamleitung sorgfältig und klug. Außerdem hatte er Humor und ein dickes Fell. Sie hatten ein gutes Klima.
Bremer seufzte. Was mochte Rüdiger zugestoßen sein? Wer hatte es gewagt, einen verdienten Polizisten zu … was auch immer. Und wer wusste schon, was noch alles auf sie alle wartete? Und diese Aktion hier wurde ihm zusehends unheimlich. Vielleicht hätten sie das Ganze doch besser mit Ostermann absprechen sollen. Gott weiß, mit wem sie es zu tun bekamen?
Bremer wurde immer unsicherer, bis Charlotte, die bisher schweigend vor sich hin gebrütet hatte, endlich wieder redete.
»Nun sieh dir das an!«
Bremer folgte ihrem Blick und staunte.
* * *
Etwas brummte. Bergheim fragte sich, ob jemand in seinem Schädel mit einem Rasenmäher herumfuhrwerkte. Langsam öffnete er die Augen. Er wurde hin- und hergerüttelt,
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