Die Tote
seine Schulter und kämpfte sich weiter voran. Es wurde schnell heller. Eine Weile kam er gut voran, aber die Erschöpfung kroch unaufhaltsam in seine Muskeln. Er würde nicht mehr lange durchhalten.
»Ich hab das Mädchen genau im Visier!«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihm. »Geh weiter und verhalte dich ruhig, sonst geht sie als Erstes drauf.«
Aber Bergheim hörte noch etwas anderes. Seinen Namen. Irgendwo in der Ferne rief jemand seinen Namen. Er hatte einfach keine Lust mehr. Er stellte das Mädchen auf seine Füße und drehte sich um.
»Na, was? Willst du schießen? Sie suchen mich bereits, was soll das noch bringen?«
Der Mann war unentschlossen, schien seine Chancen abzuwägen. »Du gehst. Das Mädchen bleibt bei mir, solange ich sie brauche. Bestell deinen Kollegen von mir, dass sie mir von der Pelle bleiben sollen, sonst …«
Mittlerweile war es hell geworden. Hunde bellten, und immer noch wurde sein Name gerufen. Charlotte. Der Kerl stand etwa acht Meter entfernt. Wie sollte er ihn überwältigen?
»Anderer Vorschlag«, entgegnete er, um Zeit zu gewinnen, »ich bleibe, sie geht. Sie hält sowieso nicht mehr lange durch.«
»Verschwinde endlich.«
Das Mädchen stand da und rührte sich nicht. Bergheim registrierte die ziemlich dünne Birke, die knapp zwei Meter von ihr entfernt stand.
»Okay.« Er beschloss, vorerst auf die Forderung einzugehen. »Aber wenn ihr was passiert, sind Sie erledigt.«
»Wenn ich hier nicht rauskomme, erschieße ich zuerst sie und dann mich. Klar?«
»Ich werd’s weitergeben«, knurrte Bergheim.
Langsam ging er einen Schritt nach vorn, warf einen Blick auf das Mädchen und stellte sich direkt in die Schusslinie. Das war hoch gepokert, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Das Mädchen allein dem Kerl überlassen kam nicht in Frage.
»Aus dem Weg!«
Der Kerl legte auf Bergheim an.
»Komm und hol sie dir!«, rief der und stieß die junge Frau in Richtung Baum. »Stell dich hinter die Birke!«
Ein Schuss löste sich und traf Bergheim, der sich zu Boden geworfen hatte, an der rechten Schulter. Aber er hatte jetzt keine Zeit für Schmerzen. Blitzschnell sprang er auf und stürzte sich auf seinen Widersacher, der für einen kurzen Moment durch einen gellenden Schrei abgelenkt war. Ein weiterer Schuss löste sich. Das Geschoss traf einen unschuldigen Wacholderstrauch. Bergheim warf sich auf den Schützen und hielt die Hand, die die Waffe hielt, eisern umklammert, während beide zu Boden gingen.
»Rüdiger!«, gellte es jetzt von ganz nahe.
»Hiiier!« Bergheim wälzte sich mit dem Angreifer auf dem Heideboden, versuchte, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Aber der Schmerz in der Schulter hatte sich lange genug geduldet. Er meldete sich mit Nachdruck zum Dienst. Bergheim verließen die Kräfte.
Doch plötzlich sackte der Kerl auf ihm zusammen. Bergheim schloss sofort die Augen, wollte auf einmal schlafen, nur schlafen. Er spürte, wie ein Druck von ihm genommen wurde und ein anderer sich auf ihn legte. Ein warmer, liebevoller. Etwas tropfte auf seine Wangen. Jemand ohrfeigte ihn.
»Rüdiger!« Er schlug die Augen wieder auf und sah Charlotte, die ihn küsste und weinte.
Das war gut. Jetzt konnte er schlafen. Von dem Hubschrauber, der wenig später über ihm kreiste und ihn und die junge Frau in die MHH transportierte, bekam er nichts mit, ebenso wenig wie von den Hundeführern und den Beamten des Sondereinsatzkommandos, die den Schützen unter ihre Fittiche nahmen. Verborgen blieb ihm vorerst auch, dass die junge Frau, die mit ihrem Wagen so Hals über Kopf in die Heide geflüchtet war, durch eine Heidschnuckenherde samt wütendem Schäfer aufgehalten worden war.
* * *
Bergheim wurde noch am Vormittag notoperiert. Das Geschoss war durch das Muskelgewebe am Oberarm nahe der Schulter gedrungen und wieder ausgetreten und hatte eine stark blutende Wunde hinterlassen. Trotz der rasch eintreffenden Sanitäter hatte er ziemlich viel Blut verloren. Aber der Chirurg konnte sie beruhigen, als er aus dem OP trat.
»Das heilt wieder«, sagte er, »Sorgen machen wir uns um die Kopfwunde. Die hat sich entzündet, und er hat Fieber, außerdem hat er eine massive Gehirnerschütterung. Frage mich, wie er sich damit überhaupt auf den Beinen gehalten hat.«
»Aber … er wird doch wieder gesund?«, hatte Charlotte, die, seit sie ihn wieder hatte, nicht von Bergheims Seite gewichen war, bange gefragt.
»Wenn das Antibiotikum wirkt und er sich ein paar Tage
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