Die Totenfrau des Herzogs
Gefühl, verloren zu sein. Sie hatte Rom überlebt. Doch wer sagte, dass Rom nicht zu übertreffen war?
Die Sonne stand schon tief, als Gérard entnervt von seinem Karrengaul stieg. Keinen Schritt schneller hatte das Pferd laufen wollen - zu Fuß wäre er wohl besser vorangekommen, doch er hasste es, zu Fuß zu gehen. Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht und hatte das Hemd unter seiner Kampfkleidung zum wiederholten Male durchnässt. Viel schlimmer jedoch war der Rauch, von dem er immer noch nicht wusste, woher er kam. Er hatte sich bemüht, das Seeufer nicht aus den Augen zu verlieren, und entschied sich auch jetzt dafür, das Pferd durch den Uferschlick zu führen, weil die Luft hier besser war. Längst hatte er den Mut und die Hoffnung verloren, Ima zu finden. Was ihn dennoch rastlos weitertrieb, das wusste er nicht. Irgendein Gefühl …
Der Gaul blieb trotz des heftigen Rauchs ruhig. Hin und wieder schnaubte er zwar besorgt, doch machte er keine Anstalten, stehen zu bleiben. Vielleicht war er früher einmal
Köhlerpferd gewesen. Gérard sah sich um. Irgendwo brannte es, verflucht. Und mehr, als für einen Kohlemeiler gut war. Hier brannte der Wald! Hin- und hergerissen zwischen seinem Instinkt, vor dem Feuer wegzulaufen, und dem Gefühl, Ima doch noch finden zu können, stapfte er weiter durchs Wasser.
Auf der Lichtung legte sich der Rauch wie ein müder alter Mann zum Schlafen hin. Deswegen sah Gérard erst spät, dass der Boden von gefallenen Kriegern übersät war. Er ließ den Zügel los und hastete mit gezogenem Schwert ans Ufer. Diese Vorsicht war übertrieben, denn niemand lebte hier mehr. Entsetzt sprang er von Mann zu Mann, drehte die Toten um, erkannte das menschliche Heidenvieh aus dem hohen Norden, erkannte verblichene Züge apulischer Kämpfer - fand Lumpen …
Den blauen Stoff kannte er. Trittspuren, aufgeworfene Grasnarbe, und dieser feine blaue Stoff - so fein, wie ihn nur Frauen trugen - eine Frau. An der unteren Kante zog sich ein gesticktes gelbes Zickzackmuster entlang, wie nur Frauen es trugen - eine Frau. Sein Herz schlug bis zum Hals, die Hände zitterten, als er den breiten Kleiderfetzen hochhob. Sie war nicht unter den Toten.
Hastig suchte er weiter, schaute in Gesichter, die er alle nicht kannte - und dann stand er vor Marius de Neuville.
Marius, der eigentlich in Bundicia hätte sein müssen. Den nichts, aber auch gar nichts so weit in den Norden geführt haben konnte … außer ein geheimer Befehl der Herzogin. Ein Befehl, den am Ende Ima mitbekommen hatte.
Gérards verzweifelter Schrei zerriss den Rauch.
ACHTES KAPITEL
Nirgend ist Flucht dem Gefang’nen, den wild der Eroberer angiert.
(Ovid, Metamorphosen: Prokne und Philomela)
D er Anführer lebte im vornehmsten Haus am Platz.
Nach einem scharfen Marsch erreichte der Trupp in den Nachmittagsstunden wieder das große Wasser. Die Siedlung war nur klein und lag direkt am Ufer des Golfs von Ambrakia. Hinter ihr türmten sich bewaldete Berge auf, die von schmalen Terrassenfeldern unterbrochen waren. Doch obwohl die Sonne schien, waren die Felder leer, nicht einmal Vieh lief in den Hügeln umher. Niemand pflegte hier mehr irgendetwas, niemand würde mehr ernten. An diesem Ort ging Ima endlich auf, in wessen Hände sie gefallen war.
»Wir sind die Vorhut des Basileus, des Kaisers von Konstantinopel«, grinste der Graue und breitete die Arme aus. »Willkommen bei den Warägern. Wisst Ihr, was Waräger sind? Nun, Ihr werdet uns kennenlernen. Und mein Herr wird entzückt sein, dass eine weitere Sonne seine Hütte erhellt.« Er lachte spöttisch. »Diese Griechen bauen nämlich so kleine Häuser, dass man meint, es sei auch am Tag noch Nacht.« Damit hatte er recht, und die Männer, die sich in diesem Weiler aufhielten, wirkten allesamt viel zu groß für die Hütten, zu groß für den Ort.
Sie lehnten an Hauswänden, gestützt auf Äxte oder lange Schwerter, manche hockten in Gruppen um einen Kessel und tranken Bier aus polierten Hörnern und silbernen Bechern,
und überall, wo Ima vorbeigeführt wurde, drang der fremde und doch so vertraute Klang einer Sprache an ihr Ohr, die sie einst als erste in ihrem Leben gelernt hatte.
»… gestern den Haraldur zusammengeschlagen …«
»… meine Axt stumpf gemacht …«
»… und beim Thor, du lügst!« Zwei sprangen auf und prügelten ohne Vorwarnung mit den Fäusten aufeinander ein. Die Wucht ihrer Faustschläge trieb sie auf den Bohlenweg, und Ima entging
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