Die Totenmaske
ins Grenzenlose zu treiben, bei einer rasanten Autofahrt hingegen, behielt man die Kontrolle. Erst jetzt merkte er, dass er breit lächelte. Leon kam sich vor wie ein kleiner Junge, der einen begrünten Abhang hinabrannte, wobei seine Beine immer schneller wurden, begleitet von der ständigen Gefahr, zu stolpern und zu stürzen.
Vor ihm näherte sich schnell die Rückseite eines roten Mazda MX5. Völlig vorurteilsfrei ging Leon davon aus, dass der Fahrer eine Frau sein musste. Sie bevorzugten nun einmal dieses Modell. Missmutig drosselte er das Tempo, obwohl der Wagen vor ihm auch nicht gerade langsam fuhr. Die Strecke zog sich noch eine Weile, wäre doch schade, wenn er den Rest wegen eines Pkw vertrödeln würde. Er setzte den Blinker mit der Absicht, zu überholen. Als er auf gleicher Höhe mit dem Mazda lag, zog dieser plötzlich an. Da hatte wohl jemand nicht vor, sich überholen zu lassen. Überrascht warf Leon einen Blick hinüber. Dunkle schulterlange Locken umrahmten ein zierliches Profil. Mehr konnte er nicht erkennen, denn er musste sich auf die Straße konzentrieren, die etwas weiter vorn auffallend enger wurde. Er erhöhte das Tempo. Sie hielt mit.
»Das glaube ich jetzt nicht!«, stieß Leon aus.
Anscheinend steckte die Kleine in demselben Anflug von Abenteuerlust wie er. Er raste neben ihr her, während die Stelle unaufhaltsam näherrückte, an der die Straße einspurig wurde. Einer musste nachgeben. Verdammt! Er war Polizist und sollte nachsichtig sein. Genau genommen sollte er die kleine Raserin dazu bringen, stehen zu bleiben. Doch dazu hätte er sich an die eigene Nase fassen müssen. Willkürlich die Amtsperson heraushängen zu lassen, wenn es gerade passte, gehörte nicht zu seinen bevorzugten Taktiken. Fakt war, dass er sich nicht im Geringsten von ihr unterschied und nicht vorhatte, unfair zu werden. Außerdem war ein niederer Instinkt in ihm geweckt. Er war angespornt, wollte gewinnen.
Ein kurzer Seitenblick zeigte, dass die junge Frau Leon zu ignorieren schien. Er wusste genau, dass sie das nicht tat, sondern ihn heimlich aus dem Augenwinkel musterte. Ihre Hände hatten fest das Lenkrad umschlossen, die Arme ausgestreckt, das Kinn vorgeschoben. Ihre Haltung zeugte davon, dass sie nicht vorhatte, klein beizugeben. Leon beschleunigte erneut. Der schneidige Flitzer schien mühelos neben ihm mitzuhalten, was in ihm einen Anflug von Bewunderung auslöste, auch wenn klar war, dass sein Wagen letztendlich der schnellere war. Wenn er jetzt nicht aufhörte, würde er sie von der Straße drängen, da seine Spur eindeutig diejenige war, die in die Straßenenge überging. Er lächelte zu ihr hinüber, während er das Tempo drosselte. Hatte sie da nicht kaum wahrnehmbar in seine Richtung genickt? Doch ehe er sichs versah, scherte der rote Wagen ruckartig nach rechts aus. Mit einem Satz war der Grünstreifen überwunden, und der Mazda holperte querfeldein auf ein Waldstück zu.
Überrascht starrte Leon dem Auto hinterher und kam dabei beinahe selbst von der Straße ab. Schnell riss er das Lenkrad herum und brachte seinen Wagen wieder auf die Spur. Obwohl er das Tempo verringert hatte, fuhr er noch mit überhöhter Geschwindigkeit. Immer wieder huschte sein Blick nach rechts, wo inzwischen dichtes Buschwerk an ihm vorbeiraste. Von dem roten Auto war keine Spur mehr zu sehen. Dafür schoss ein Ortsschild an ihm vorbei, das er nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Keine Chance, die Aufschrift zu lesen, aber er hatte da so eine Ahnung. Mit quietschenden Reifen brachte er den Wagen zum Stehen und legte den Rückwärtsgang ein, bis er das Schild erreichte. Mit einem ergebenen Grinsen bog er kurz darauf in die gekennzeichnete Straße nach Birkheim ab.
Kapitel 6
D er Teppich war grün, ein matter Ton. Entfernt erinnerte er an den silbrigen Schein einer mit Tau benetzten Wiese im Morgengrauen, doch in Wahrheit ähnelte er mehr einem Grauschleier, auch wenn die eingestickten weißen Muster Blumen suggerieren sollten. Fast alle Böden im Haus bestanden aus massivem Eichenparkett. Ausgerechnet im festlichen Trauersaal, in dem sich regelmäßig zahlreiche Menschen zusammenfanden, lag dieses flauschige Ding. Zoe konnte sich nicht entscheiden, ob sie den Teppich hasste oder liebte. Als Kind war sie oft mit nackten Füßen darübergelaufen und spielte sogar jetzt mit dem Gedanken, einfach ihre Schuhe auszuziehen. Stattdessen packte sie den Stapel Lieferscheine und ging damit zu einem der polierten Beistelltische
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