Die Traenen Des Drachen
Waldgeister! Loke! Er warf sich über das Dollbord und riss die Luke des Ankerkastens auf. Leer. Das Gepäck war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Karain zog seinen Sack aus der Wasserlache unter der Ruderbank. Er ließ das Wasser abtropfen, setzte ihn auf dem Sand ab und rollte die Decke auf, die sich aus den Befestigungsriemen gelöst hatte. Loke und seine Schüler versuchten bestimmt herauszufinden, wo sie gelandet waren. Sie würden ihn doch wohl nicht hier allein zurücklassen?
Karain löste seinen Umhang, zog die Stiefel aus und wrang seine nassen Socken aus. Dann zog er sie wieder an, warf sich den Sack über die Schulter und brach auf. Zuerst wollte er die Anhöhe emporsteigen. Vielleicht konnte er von dort aus das Land überblicken. Vorsichtig schritt er über den Sand, denn er hatte einmal gehört, wie ein Arer von Stränden aus Treibsand erzählt hatte, die Menschen bei lebendigem Leibe verschluckten.
Der Sturm hatte große Tangflatschen, an denen Miesmuscheln hingen, an den Strand gespült. Fischhäute glänzten auf dem schmelzenden Schnee, und mitten zwischen Brandungslinie und der Anhöhe lag ein Tangarm, der so lang wie zwei Schiffe war. Und dort, am Ende der braunen Meerespflanze, entdeckte er die Spuren. Vier Reihen kleiner Fußabdrücke und bei jedem zweiten Fuß die Abdrücke von Speerschäften. Der Schnee war hier höher, und es hatte bereits in die Spuren geschneit. Die Gezeiten, dachte er. Sie mussten bei Ebbe gestrandet sein, und vermutlich hatten die Waldgeister sofort das Boot verlassen, als sie festen Boden unter dem Kiel verspürten. Dann war die Flut gekommen und hatte die Spuren bis hier oben verwischt. Nur gut, dass das Boot nicht wieder aufs Meer hinausgespült worden war! Karain steckte seinen Finger in die Spuren und maß die Schneehöhe. Eine Kralle tief hatte es geschneit, seit die Waldgeister an Land gegangen waren. Und jetzt war der Himmel wolkenlos. Warum waren sie noch nicht zurückgekehrt? Karain spürte, wie sich sein Hals zusammenzog. Er hakte seine Hände unter den Schulterriemen ein und begann zu laufen. Immer wieder riss er seine Augen auf und kämpfte gegen die Tränen an. Was hatte Vater gesagt? Dass er wie ein Krieger aussah! Und Krieger weinten nicht.
Er erreichte die Anhöhe und begann zu klettern. Sie war höher als der Mast eines Kelsschiffes, und immer wieder rutschte der Sand unter seinen Füßen weg. Aber er bohrte seine Krallenfinger in die wenigen Grasbüschel und gelangte schließlich ganz nach oben. Er hatte gehofft, dort oben an der Schwelle zu einem neuen, unentdeckten Reich von den Waldgeistern erwartet zu werden, aber die grasige Anhöhe, die er gerade erklommen hatte, war nur die erste Hürde eines sich scheinbar in alle Ewigkeit fortsetzenden Hügellandes. Die Spuren der Waldgeister führten hinunter in eine Senke zwischen zwei Hügeln, die noch höher waren als derjenige, auf dem er stand.
»Loke!« Seine Stimme zerschnitt die Stille und war derart laut und verräterisch, dass er zusammenzuckte, als hätte er alles Böse der Welt geweckt.
»Looo… kee… lo… ke…« Die Hügel warfen das Echo zurück. Wenn es hier Räuber oder Menschenfresser gab, hatten sie ihn ohne Zweifel gehört, dachte er und ließ sich in die Senke rutschen. Er stolperte über ein Grasbüschel und überschlug sich, ehe er wieder auf die Beine kam. Der Sand blieb an seinen nassen Kleidern hängen, doch das störte ihn nicht, denn so war er nicht so leicht zu sehen. Er zog das Schwert aus der Scheide und wog das Gewicht in seiner Hand. Dafür dass es so kurz war, war es wirklich schwer. Die Glocke war aus Bronze und unmittelbar über dem Schaft wie ein Knoten um die Klinge herumgeschmiedet worden. Die Kerben in der Schneide verrieten, dass es früher bereits benutzt worden war. Auf dem Knauf stand »Kels«, und die Schneide war mit einem schlangenförmigen Blutrand verziert. Karain lächelte und hielt sich das Schwert vor die Augen. Er trug das Schwert eines Kelskriegers! Oh, er erinnerte sich daran, wie er und seine Brüder wie festgenagelt dagestanden hatten, als sich die Kelsmänner auf der Brücke im Schwertkampf geübt hatten! Die Krieger waren halb nackt gewesen und hatten die Haare wie Frauen hochgesteckt, damit sie erkennen konnten, wer die erste Verwundung davontrug. Wie sie aufeinander losgegangen waren, sich auswichen und die Attacke des Gegners abfingen, während sie ihre eigene vorbereiteten! Abends hatten Arga, Mir und er selbst mit Stöcken
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