Die Tränen des Herren (German Edition)
fiel ihm Charny ins Wort. „Es wäre nicht das erste mal, dass sie uns einen falschen Bruder schicken, um uns auszuhorchen!”
Doch Jacques de Molay hatte sich an einen fernen Tag auf Zypern erinnert. „Jocelin, der Pflegesohn von Bruder Arnaud...”
„Ja. Ich komme als Gesandter von den Brüdern, die in Freiheit sind, und bereit, Euch und dem Orden zu dienen!“
Mit einer Hoffnung, die aus der Verzweiflung geboren war, hörte Godefrois de Charny, was Jocelin berichtete. War dieser junge Mann das Zeichen Gottes, um das sie Tag und Nacht flehten?
„Sire Arnaud und ein anderer Bruder sind bereits auf dem Weg nach Tours, um mit den Abgeordneten der Stände zu sprechen. Und hier ist die Petition, die wir einem der geistlichen Abgeordneten geben wollen. Wir bitten Euch um Approbation, wenn Ihr damit einverstanden seid, Messire.”
Jacques de Molay musste das Schreiben dicht vor die Augen halten, um die Buchstaben noch unterscheiden zu können. Dann nickte er langsam. „Ja. Erinnert sie an die Privilegien unseres Ordens! Unser Archiv ist in den Händen König Philipps, aber das hier wird genügen. Bruder Arnaud kennt sich aus...”
Der Meister nahm eine Kerze, tropfte etwas Wachs auf das Pergament und drückte seinen Siegelring unter die Petition.
Eine Faust donnerte gegen die Kerkertür. „Beeilt Euch, zum Teufel!“ drängte der draußen wartende Kastellan.
„So lange ich Gefangener bin und im Kerker, bestelle ich Bruder Arnaud und Euch zu den Prokuratoren des Ordens. Ihr könnt Euch beiordnen, wen Ihr für richtig haltet -“ Jacques de Molay streifte seinen Ring ab und übergab ihn Jocelin. „Nehmt dies als Zeichen, dass ich Euch investiert habe.”
Godefrois de Charny runzelte die Stirn. Waren Arnaud und der junge Bruder aus Provins einer solchen Kompetenz fähig? Nogaret und der Großinquisitor Imbert hatten sie alle überrumpelt und ins Gestrüpp ihrer Gesetzestexte gelockt. Konnte überhaupt noch ein Mensch einen Ausweg finden?!
„Bruder Jocelin, was wisst Ihr von unseren Brüdern in Aragon, in England, im Reich? Sind sie noch in Freiheit?“ fragte Molay.
„Die Brüder in England sind gefangen, obwohl Papst Clemens noch keinen allgemeinen Befehl erlassen hat.”
„Aber König Philipp hat einen langen Arm!” murmelte Godefrois de Charny sarkastisch.
„Aus Aragon und dem Reich haben wir noch nichts gehört", fuhr Jocelin fort.
„Wer weiß, was noch geschehen wird... Ich gebe Bruder Arnaud und Euch alle Vollmachten, Bruder Jocelin, auch über die Brüder in den anderen Ländern!“
Der Kastellan klopfte erneut.
„Ihr müsst gehen. - Gott schütze Euch!“
Einen Augenblick später waren die Gefangenen wieder allein.
----
Lauf, lauf, lauf!“
Arme streckten sich nach ihm aus, Hände versuchten ihn zu packen, aber seine Kinderbeine waren viel zu langsam. Er stolperte, fiel und schrie aus Leibeskräften, obwohl man ihm doch geboten hatte, ruhig zu sein. Er sah, wie die Bewaffneten in das Haus eindrangen, hörte das Krachen und Scheppern zu Boden geworfener und berstender Gefäße.
„Guillaume, komm her! Lauf doch, um Gottes willen!“ Die Stimme klang noch schriller als die zersplitternden Karaffen der Küche. Aber der Junge rührte sich nicht. Er saß im Schlamm des hinter der Viehtränke abführenden Weges und starrte hinunter auf das Haus wie unter einem Zauberbann. Zwei der Soldaten zerrten einen Mann mit sich.
„Großvater! GROSSVATER!!!“ Jetzt rannte der Junge, aber nicht den anderen Flüchtlingen hinterher, sondern abwärts, zurück zum Haus. „Großvater! NEIN! NEIN! NEIN!“
Der alte Mann in der schwarzen Robe drehte sich zu ihm um. Ein verzweifelter Ausdruck kam in seine Züge. Er schrie etwas, aber der Lärm der Bewaffneten ließ die Laute nicht bis hinauf zu dem Kind dringen, das sich im aufgeweichten Erdreich und über sperriges Wurzelwerk zu ihm vorwärts zu kämpfen suchte. Halb stolpernd, halb rutschend den kleinen Hang hinter dem Haus hinab.
Zwei gepanzerte Arme ergriffen den alten Mann und bugsierten ihn in Richtung eines Wagens. Der Junge sah einen weißen Mantel durch das Blattwerk leuchten. Einen weißen Mantel mit einem blutroten Kreuz...
„Guillaume, Guillaume, wach auf!“ Seine Frau rüttelte ihn an den Schultern, und der Siegelbewahrer ließ endlich den Albtraum hinter sich.
„Schon wieder diese alte Geschichte?“ fragte sie, ihre Haare wieder unter die Nachthaube stopfend, während Nogaret aufstand, zu der neben dem Bettalkoven stehenden
Weitere Kostenlose Bücher