Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
offenkundig, und obwohl er das gemeinsame Wissen des Tales für selbstverständlich hielt, wurde er nie müde, Gemmas Erzählungen über individuelle Zauberei zu lauschen oder selbst Theorien über Magie zum Besten zu geben. Er wusste bereits, dass Gemma glaubte, ihre Fähigkeiten stünden mit Gruppen in Verbindung - ihre Begegnung mit dem Rudel wilder Hunde und den Elementalen unterstrich das noch -, hatte aber Mühe, das mit anderen Tatsachen in Einklang zu bringen.
»Wenn Zauberei nicht mehr von einem einzelnen Verstand abhängt und von ihm kontrolliert werden kann, wie erklärst du dir dann deine Leistung, als du ganz alleine warst?«
Sie hatten schon früher über diese Frage gesprochen, aber nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden. Als sie jetzt über einen der grasbewachsenen Hügel spazierten, von denen aus man das Tal überblicken konnte, gab Gemma ihm die einzige Antwort, die sie kannte.
»Vielleicht bin ich eine Ausnahme.« Es klang lahm, doch eine andere Erklärung hatte sie nicht.
»Aber warum?« fragte Ashlin voller Eifer nach und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Du kannst heilen, Feuer entfachen, Dinge in Stücke schlagen, wenn du wütend bist, dich mit Tieren verständigen - und du warst es auch, die die schwebende Stadt - und was ihr dort vorgefunden habt - am Ende zu deuten gewusst hat. Du bist offensichtlich etwas Besonderes - aber warum?«
»Die meiste Zeit fühle ich mich nicht als etwas Besonderes«, verriet sie ihm. »Und ich hatte immer Hilfe. Selbst wenn ich alleine war, gab es immer andere, die mich geführt haben - besonders Cai.«
»Aber nicht am schaukelnden Stein.«
»Nein, aber die Meyrkats ...«
»Die Meyrkats haben geholfen, aber ihr Gesang hat in den vorausgegangenen Jahren versagt. Du hast den Zauber wiederhergestellt«, unterbrach Ashlin sie. »Es ist, als wärst du dazu auserwählt, eine besondere Rolle zu spielen - und zwar von einer Macht, die wir nicht kennen.«
»Dann würde ich gerne das Textbuch sehen!« gab Gemma lachend zurück. »Das würde eine Menge Ärger sparen.«
»Ist vielleicht vor dem Schleifen irgendetwas geschehen«, fuhr Ashlin immer noch ernst fort, »das dir möglicherweise diese einzigartigen Kräfte verliehen hat?«
Nicht davor, erinnerte sich Gemma, sondern währenddessen. Sie hatte nie gerne über ihre Rolle gesprochen, die sie als Siebenjährige bei dem Zaubererritual gespielt hatte, das das Schleifen - oder die Zerstörung, wie man es auf ihrer Heimatinsel nannte - hervorgebracht hatte. Ihre Erinnerung an diesen schicksalsträchtigen Tag war verworren, und seit Arden sich geweigert hatte, ihre Geschichte zu glauben, war es ihr zunehmend schwergefallen, sich deutlich daran zu erinnern. Doch sie war dabei gewesen, mitten im Epizentrum dieser schicksalhaften Katastrophe - innerhalb der Reichweite einer Kraft, die entsetzlicher war als alles, was sie sich vorstellen konnte. Für wenige Augenblicke war der Weltgeist wachgerüttelt worden und hatte das Böse zerstört, das die ganze Welt zu überwältigen drohte - allerdings auf Kosten Tausender unschuldiger Menschenleben. Vielleicht hatte diese Erfahrung sie tatsächlich zu etwas Besonderem gemacht und sie in diese seltsame Führungsrolle gedrängt.
Sie spielte mit dem Gedanken, all dies Ashlin zu erklären. Schließlich verdiente sein forschender Verstand eine gewisse Berücksichtigung, genau wie seine Sorge um sie, doch am Ende brachte sie es doch nicht fertig. Ihre Erklärung war zu kompliziert, zu vage.
»Ich weiß es nicht«, meinte sie. »Damals war ich noch ein Kind.«
Ashlin verbarg seine Enttäuschung, und sie gingen eine Weile schweigend weiter.
»Für mich wirst du immer etwas Besonderes sein«, meinte er leise, doch nach diesem offenen Geständnis schien es ihm die Sprache verschlagen zu haben. Gemma wartete, aber schließlich musste sie etwas sagen.
»Ashlin, ich mag dich sehr, aber du musst wissen ...«
»Oh, das tu' ich«, sagte er schnell. »Tut mir leid - ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
»Sag nicht, dass es dir leid tut. Sei einfach mein Freund.«
»Immer«, erwiderte er feierlich.
Der Rest ihres Spaziergangs verging schweigend. Die beiden erfreuten sich an dem neu erwachten Leben im Tal. Am Eingang zur Farm verabschiedete Ashlin sich, und Gemma trat eher erleichtert ins Haus, wo Kragen gerade das Abendessen vorbereitete.
»Keine weiteren Freier mehr?« stellte er sich naiv.
Einen Augenblick lang wusste Gemma nicht, ob sie lachen oder weinen
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