Die Trinity-Anomalie (German Edition)
junger Mann stand auf einer umgedrehten Milchkiste, eine Kopie von Trinitys blauer Bibel aufgeschlagen in der Hand. Er sah aus wie der Musterschüler eines protestantisch-fundamentalistischen Colleges. Er sagte: »Erinnert euch, Brüder und Schwestern, was bei Matthäus steht. Kapitel elf, Vers neunzehn: ›DerMenschensohn ist gekommen, isst und trinkt; so sagen sie: Siehe, was ist dieser Mensch für ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder!‹ Und jetzt ist Reverend Tim angeblich drogensüchtig! Das ist doch das Gleiche! Seht ihr das nicht?«
»Halt doch die Klappe, Junge«, rief eine äußerst korpulente Schwarze in mittleren Jahren. »Jesus hat kein verdammtes Kokain genommen und du hast nur Stroh im Kopf.«
»Aber damals im Heiligen Land gab’s gar kein Kokain«, beharrte er.
Ein kräftiger, weißer Biker löste sich aus der Menge und stellte sich zwischen die beiden. Er trug eine schwarze Lederhose, hatte eine Glatze, einen Hufeisenschnauz und einen freien Oberkörper. Eine Tätowierung von Jesus am Kreuz bedeckte seinen gesamten Rücken und auf dem rechten Oberarm prangte ein roter Comic-Teufel: Hörner, Ziegenfüße, spitzer Schwanz. Ein vollbusiger Engel, der aussah wie Bettie Page, zierte seinen rechten Arm. Er drohte dem Jungen auf der Milchkiste mit einem Finger.
»Die Lady hat recht. Halt die Schnauze, wir wollen diesen Mist nicht hören.«
Aber obwohl ihm die Angst im Gesicht stand, beharrte der Junge: »Bitte … Reverend Trinity ist der Messias. Ich will euch doch nur helfen zu verstehen …«
»Und ich helfe
dir
gleich, die Intensivstation von innen zu sehen. Halt endlich die Fresse.« Der Biker schritt auf ihn zu. Keine rührte sich, außer dem Jungen, der weiche Knie bekam und von der Kiste fiel. Er sank mit einem Knie ins Gras, konnte sich aber wieder aufrappeln. Er zitterte sichtlich. Der Biker sagte: »Der Erlöser
rennt
nicht einfach weg, du Vollidiot. Ich sage dir, was passiert ist: Die Situation wurde brenzlig und Trinity hat sich vom Acker gemacht.«
Der Junge hatte Mühe zu sprechen. »Ent … Entschuldigung, Sir, aber auch der Erlöser rennt manchmal weg. Jesus ist zuerst aus dem Tempel geflohen und später zurückgekehrt. Reverend Tim wird zu uns zurückkehren, und zwar bald …« Dann brachen alle Dämme, und Tränen strömten über sein Gesicht. Seine Oberlippezitterte heftig und er schluchzte: »Bitte, wir dürfen unseren Glauben nicht verlieren.«
Der Biker machte zwei Schritte vorwärts und schwang seine Rechte; die Nase des Jungen platzte auf und spritzte tiefrote Flecken auf seine Brust.
»Spritz mich bloß nicht mit Blut voll!«, schrie der Biker, als der Junge zu Boden fiel. Er hob wieder seine Faust, schlug aber nicht zu. Nach ein paar angespannten Sekunden schüttelte er den Kopf, ließ seinen Arm sinken und begann, seine Faust immer wieder zu öffnen und zu schließen. »Ich habe dich gewarnt.« Er stürmte davon und verschwand in der Menge. Niemand versuchte ihn aufzuhalten.
Der Junge lag in Fötusposition im Gras, hielt sich die Nase, und Blut sickerte durch seine Finger, während er hektisch durch den Mund atmete. Sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen. Ein Hippie-Cowboy, der aussah wie Kris Kristofferson, und das minderjährige Strichmädchen eilten ihm zu Hilfe.
Andrew lief weiter durch die zerstörte Zeltstadt. Etwa ein Viertel der Pilger hatte sich bereits aus dem Staub gemacht, und es sah aus, als würde ein weiterer Stadtteil abgebrochen.
Das kann doch unmöglich Gottes Wille sein…
Ein Kerl, den er flüchtig kannte, kam auf ihn zu. Sie hatten sich zwei Tage zuvor in einer Toilettenschlange kennengelernt. Man musste über eine Stunde warten und der Typ redete gern. Aber Andrew konnte sich an kein einziges Wort mehr erinnern.
Wie hieß der Mensch noch gleich?
»Andrew«, sagte der andere. »Ich bin’s, Dandelion. Kennst du mich noch?«
»Ach ja, natürlich.« Jetzt erinnerte er sich wieder. Dandelion kam aus Kanada. Seine Mutter war eine waschechte Irokesin, sein Vater ein jüdischer Linksradikaler, irgend so ein Umweltaktivist. Dandelion war in einer Stadt namens Hamilton aufgewachsen, einer Stahlhüttenstadt, wie er sagte. Die Sommer hatte er immer bei seiner Großmutter im Indianerreservat verbracht. Er hatte Andrew einen Ausweis für amerikanische Ureinwohner gezeigt. Damit konnte er im Reservat steuerfrei Tabak kaufen.
»Alle glauben, dass er nach New Orleans unterwegs ist«, sagte Dandelion.
Andrew nickte.
»Ich
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