Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
Caspar traf?
„Vertrau mir, Mann!“
Mehr Zeit zum Nachdenken blieb Caspar nicht, der Stadtbeamte begann nun die Distanz abzuzählen, die die Brüder voneinander trennen sollte:
„Et un!“
Caspar tat den ersten Schritt. Sein Herz schlug wie wahnsinnig.
„Et deux!“
Luisa. Er dachte an ihre Wangengrübchen.
„Et trois!“
Ihre wundervollen Lippen.
„Et quatre!“
Die Nächte, die sie miteinander verbracht hatten. An sein Kind, das er nicht kennenlernen würde, wenn Clemens ihn erschoss. Er schluckte. Behalt die Nerven, behalt bloß die Nerven!
„Cinq!“
Seine Mutter, die die besten Eintöpfe zubereitet hatte. Konzentrier dich! Denk an was Idiotisches. Socken, Luisas Zehensocken.
„Six!“
Balthasar. Caspar hob den Blick. Balthasar weinte hemmungslos um einen seiner Brüder.
„Sept!“
Balthasar würde ein wunderbarer Damastweber werden und er würde einen fabelhaften Ehemann abgeben. Irgendwann.
„Huit!“
Anderthalb Jahre. Du warst anderthalb Jahre lang sehr glücklich. Reiß dich zusammen, für Luisa.
„Noef!“
Hermine. Caspar wäre gerne noch einmal an Hermines Grab gegangen. Seine kleine, zappelige Hermine. Sie schien aus einem anderen Leben zu stammen und der Gedanke tat gut, bei ihr zu sein. In wenigen Sekunden war er vielleicht bei ihr. Noch ein Schritt.
„Dix!“
Caspar wandte sich um. Sah in Clemens’ Augen und konnte sich nicht rühren. „Halt still“, hallte es in seinem Kopf wider. Er hielt still, bewegte sich nicht und beobachtete seinen Bruder, der das linke Auge zukniff, zielte und den Pistolenlauf direkt auf seinen Kopf richtete. Caspars Herz setzte kurz aus, um dann holpernd weiterzuschlagen. Die Anspannung war einfach zu groß. Clemens’ dunkelblaue Augen glitzerten.
Dann löste sich ein Schuss.
Den sechzehnten August verbrachte Luisa gemeinsam mit Maria Weber, Elsbeth und den anderen Mädchen. Meister Weber und Herrmann waren in Zittau.
Die Frauen sprachen nicht viel, sondern schnippelten Salat, Luisa schnitt sich in den Finger, sie schälten Kartoffeln, Luisa schälte viel zu dick, sie kochten Marmelade ein, Luisa verbrühte sich die Finger, sie buken Brot und Kuchen, Luisa ließ Letzteren anbrennen. Und sie bereiteten Unmengen von Speisen vor. Für eine Trauerfeier.
Am späten Abend erst hörten sie die Räder jenes Wagens Auf dem Sande knirschen, mit dem Friedrich Weber und Herrmann Tkadlec am frühen Morgen aufgebrochen waren. Maria Weber fiel in sich zusammen. Ohne zu wissen welcher, aber mit der Gewissheit, dass einer ihrer Söhne nicht mehr am Leben war, schluchzte sie in Elsbeths Armen.
Luisa trat aus der Stube und beobachtete Friedrich Webers vom Mondschein verblichenes Gesicht. Caspar oder Clemens?, schrie es in ihr, aber sie brachte keinen Ton heraus. Herrmann quetschte sich an ihr vorbei und nahm Elsbeth, die weinte, in den Arm. Luisa trat die zwei Stufen des Weberhauses hinunter und stellte sich neben den alten Meister. Elsbeth ließ mit einem Male einen Laut hören, der nur von einer irre Gewordenen stammen konnte: Wie verrückt weinte und lachte sie zugleich. Luisa begriff gar nichts.
„Wir haben es durchgestanden, Fräulein Treuentzien, es ist vorüber“, sprach der alte Meister, während er dem Lohnkutscher ein paar Münzen auszahlte. Luisa schluckte. Da waren tausend Worte in ihrem Kopf, aber keines davon kam aus ihrem Mund. Die Kutsche fuhr davon. Friedrich Weber starrte auf die Rinnen, die die Räder im Sand hinterlassen hatten. „Wissen Sie, ich hatte immer den Eindruck, dass Clemens Caspar stets und ständig alles weggenommen hat. Ich glaube, schon im Mutterleib hat Clemens die ganze Nahrung für sich beansprucht.“ Friedrich Weber zuckte mit den Achseln und Luisa war sich nicht sicher, ob der Mann gerade den Verstand verlor. „Caspar war immer der Besonnenere von beiden, aber er war kränklich. Er hat sich erst herausgemacht, als Clemens flügge wurde und das Haus verließ. Aber selbst da hat Gott ihm ständig Prüfungen aufgegeben. Nicht einmal Hermine durfte er behalten.“
Luisas Tränen kullerten unaufhörlich. Was sollte sie ohne Caspar anfangen?
„Ich war sehr froh zu erfahren, dass Sie und Caspar ... dass er so glücklich war. Er hat Sie wirklich verdient, Fräulein Treuentzien. Ich will kein schlechter Vater sein, wenn ich das so beurteile, aber ich denke, es war Gottes ausgleichende Gerechtigkeit, dass dieses eine Mal Caspar gewonnen hat.“
Luisa schniefte, dachte nach. Was? „Was?“
Meister Weber
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