Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
jener Nacht vielleicht etwas in ihr selbst abgestumpft war, kam ihr nicht in den Sinn.
»Dann kommst du also vorläufig nicht mehr zur Schicht?« Kuniko versuchte ihre Schwäche wieder auszugleichen und reckte hochmütig ihr Kinn in die Luft.
»Ich würde schon gerne, aber Masako sagt, ich soll erst mal zu Hause bleiben.«
»Masako, Masako, immer nur Masako! Seid ihr Lesben, oder was?«, schrie Kuniko verächtlich und stürmte ohne Gruß aus dem Haus.
Ja, hau nur ab, du fettes, weißes Schwein!, fluchte Yayoi im Stillen und blieb wie versteinert auf dem Absatz stehen. Dort, wo nur zwei Nächte zuvor ihr Mann sein Leben gelassen hatte.
Sie hatte schon den Hörer in der Hand, um Masako anzurufen und ihr zu erzählen, was gerade geschehen war, fürchtete dann aber, von ihr ausgeschimpft zu werden, weil sie die Bürgschaft unterschrieben hatte, und legte schnell wieder auf, während es noch läutete.
Auch der heutige Tag war vergangen, ohne dass sie mit jemandem darüber geredet hatte.
Es half nichts, sie musste sich wegen dieser Sache mit Masako beraten, auch wenn sie dafür Schelte bekäme. Endlich fasste sie sich ein Herz, tat die geschälten Kartoffeln in einen Kessel mit Wasser und ging zum Telefon.
In dem Moment klingelte es an der Haustür. Yayoi fuhr zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus. Ob das wohl wieder Kuniko war? Ängstlich schlich sie zur Gegensprechanlage und meldete sich. Die belegte Stimme eines Mannes sagte: »Ich komme vom Musashi-Yamato-Polizeirevier.«
»Oh... ja, einen Moment.« Die Polizei! Rasendes Herzklopfen befiel sie.
»Sind Sie es, Frau Yamamoto?« Der Tonfall des Mannes klang
höflich und freundlich, aber Yayoi verlor die Nerven. Wieso kamen sie jetzt schon? Was war passiert? Ein schrecklicher Verdacht kam ihr in den Sinn: War Kuniko etwa gestern noch zur Polizei gelaufen und hatte sie verraten? Dann war alles zu spät, es war aus. Am liebsten hätte sich Yayoi auf der Stelle umgedreht und wäre davongerannt.
»Könnte ich eben mit Ihnen sprechen?«
»Ja, sofort.« Yayoi riss sich zusammen und öffnete die Tür. Davor stand ein freundlich lächelnder, armselig aussehender Mann mit angegrauten Haaren und einem Mantel über dem Arm. Es war Herr Iguchi, der Leiter der Einsatzstelle für häusliche Sicherheit.
»Ah, guten Abend, Frau Yamamoto. Ist Ihr Mann inzwischen nach Hause gekommen?«
Iguchi hatte ihr, da der zuständige Beamte gerade nicht am Schalter war, als sie die Suchanzeige aufgeben wollte, höflich und ausführlich das Meldeverfahren erklärt. Er war es auch gewesen, der ihr erstes Telefonat entgegengenommen hatte, und Yayoi hatte einen guten Eindruck von ihm, da er sie immer freundlich und zuvorkommend behandelt hatte.
»Nein, noch immer nicht«, antwortete Yayoi, während sie ihr wachsendes Unbehagen zu überspielen suchte.
»Oh, das tut mir Leid.« Iguchis Gesicht bewölkte sich ein wenig. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass man heute Morgen im Koganei-Park die zerstückelte Leiche eines Mannes gefunden hat.«
Übelkeit befiel Yayoi, als sie das hörte. Alles Blut schien aus ihrem Körper zu weichen, ihr wurde schwarz vor Augen, sie verlor die Kontrolle und begann zu schwanken. Sie lehnte sich an die Tür, um nicht zusammenzubrechen. Es war also tatsächlich ans Tageslicht gekommen. Was sollte sie bloß tun?
Aber Iguchi schien die Symptome der Angst als Sorge einer Ehefrau um ihren vermissten Mann zu deuten. Wie um sie zu trösten, fügte er hastig hinzu: »Beruhigen Sie sich, Frau Yamamoto, das muss noch lange nicht heißen, dass es sich um Ihren Mann handelt!«
»… meinen Sie?«
»Wir statten lediglich allen Haushalten in der näheren Umgebung, die eine Such- oder Vermisstenanzeige aufgegeben haben, einen Besuch ab, um eingehendere Ermittlungen einzuleiten.«
»Verstehe.« Sie brachte ein kleines Lächeln der Erleichterung zustande, doch in Wahrheit war sie außer sich vor Angst, da sie ja wusste, dass es sich nur um Kenji handeln konnte.
»Dürfen wir Sie einen kleinen Moment stören?« Iguchi hielt die Haustür mit der Fußspitze auf und schob seinen hageren Körper geschmeidig daran vorbei. Erst jetzt bemerkte Yayoi die Männer in blauer Uniform, die hinter ihm standen.
»Es ist ziemlich dunkel hier«, stellte Iguchi fest, als er das Wohnzimmer betrat. Die Küchenvorhänge waren immer noch zugezogen, um die Westsonne abzuhalten. Ein düsteres Haus wirkte unanständig, wenn es draußen noch hell war. Yayoi fühlte sich angegriffen und
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