Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
unten.
Dann erhob sich Rocheleau wieder. Er kaute stieren Blicks. Bange musterte Roger sein Gesicht, seine schwarzen Haare, seine großen, grauen, immer fragenden und vollkommen unberechenbaren Augen … Dann stieß Roger einen Seufzer der Erleichterung aus und entspannte sich. Er führte den Mund ans Ohr des Kindes.
»Weißt du, dass du mir fast Angst gemacht hast?«, flüsterte er.
Der Junge sah ihm unverwandt in die Augen.
Rogers Atem verlangsamte sich, so als würde ihm die Luft ausgehen, und zitternd streckte er die Hand zur Wange des Kindes aus. Doch Rocheleau wich mit dem Kopf zurück.
Der Große Roger ballte langsam die Hände zur Faust. Er war kalkweiß geworden. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Jetzt war es Bradette, der einen Schritt zurückwich. Rocheleau senkte in Erwartung eines Schlages den Kopf. Aber der Mann ergriffdie Beine der Witwe, winkelte sie an und drückte sie ihr brutal gegen den Bauch. Es sah aus wie eine klaffende Wunde.
»Für wen hältst du dich eigentlich? Schau, wo du herkommst, schau her! Alle kommen daher, du auch, genau wie alle anderen, selbst das kleine Jesuskind! Für wen hältst du dich, kleine Prinzessin? Los, antworte! Wusstest du, dass wir da herkommen?«
Rocheleau nickte. Ihm klebten Brotklumpen am Zahnfleisch. Rogers Stimme wurde leiser, und schärfer. Er sagte ihm, er solle sie genauer ansehen, und nicht zu Boden. Er packte ihn an den Haaren.
»Schau dir die Racicot an, die sieht aus wie tot! Erinnert dich das an was? Kann es sein, dass du auch aus dem Bauch einer Toten kommst? Die Toten sehen einer wie der andere aus, Onkel Roger weiß, wovon er spricht!«
Er schüttelte Rocheleaus Kopf wie eine Glocke.
»Gib zu, dass du sie gerne da unten küssen würdest, gib’s nur zu! Was, wenn ich das nachher deinem Vater erzählen würde? Du weißt doch, dass dein Vater alles glaubt, was ich ihm sage! Stimmt’s? Antworte! Antworte, wenn ich mit dir rede!«
Rocheleau schniefte, das Kinn auf die Brust gesenkt. Er klammerte sich fest an die Decke, die ihn umhüllte. Roger ließ die Beine der Witwe fallen. Er holte ein paar Münzen aus der Tasche, öffnete Rocheleaus Faust und legte ihm das Geld in die Hand. Die Finger des Kindes schlossen sich wieder. Diesmal ließ Rocheleau zu, dass er ihm über die Wange streichelte.
»Du bist schön, weißt du das, kleine Prinzessin? Und nur weil ich dich liebe, bringe ich dir alle diese Sachen bei. Irgendwann verstehst du das, aber jetzt bist du noch zu jung dafür. Irgendwann verstehst du, dass ich dich geliebt habe, und dann bist du mir dankbar dafür.«
Rogers Stimme hatte freundlich geklungen, aber sein Gesicht drückte etwas anderes aus: starke Begierde und eine große Not. An seinem Hals zuckten die Nerven. Er sah sich blinzelnd um, als erkenne er die Umgebung nicht mehr wieder. Er runzelte die Stirn und senkte den Kopf, als hätte man ihm gerade ins Ohr gebrüllt. Mühsam stand er auf, hangelte sich auf wackeligen Beinen die Möbel entlang und setzte sich etwas weiter weg, wo das Licht der Lampe die Dunkelheit unangetastet ließ.
Rocheleau hielt noch immer den Kopf gesenkt. Das Schnarchen der Racicot war verstummt, und das Jaulen der Katzen in der Küche machte die Stille nur noch hörbarer.
»Wir müssen los.«
Bradette warf einen Blick in den Halbschatten zu Roger.
»Ich gehe nicht«, sagte er.
Rocheleau entglitten die Gesichtszüge.
»Aber wir hatten doch gesagt …«
»Dann geh. Ich bleibe.«
Sie hörten Rogers friedvolles Lachen. Rocheleau stand wie angewurzelt da und konnte sich nicht mehr bewegen. Bradette ging zu ihm und schüttelte ihn am Arm. Er schien selbst große Angst zu haben.
»Ich sage dir, du gehst! Ich bleibe. Hörst du? Ich bleibe! «
Die letzten Worte waren ihm herausgerutscht wie ein Schrei. Die Witwe begann schaurig zu lachen. Einen Augenblick verharrten die drei in Alarmbereitschaft. Aber die Racicot verstummte wieder und warf ihren Körper gleich einer Toten, die sich im Grabe umdreht, zur Seite. Die Herzen fingen wieder an zu schlagen.
Rocheleau murmelte: »Es ist aus, ich komm’ nicht mehr her.«
Und nach einem Schweigen fügte er hinzu:
»Es ist nicht mehr wie früher. Früher war es nie so. Jetzt lässt er uns rein, er hat dir erlaubt, sie anzufassen. Sie ist … Ich komm’ nicht mehr her.«
»Doch«, sagte Bradette, »du kommst wieder. Und dann bleibst du.«
Er hatte den Satz genau im richtigen komplizenhaften Tonfall gesagt, um Rocheleau damit zu treffen. Der ging zum Fenster
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