Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Gianni war der glücklichste Bräutigam der Welt. Bis heute bedaure ich, dass ich die Trauungszeremonie verpasst habe, doch Hélène, die mich mit den Jahren nicht lieber mochte, hatte sich durchgesetzt und ich musste zu Hause bleiben. Es wäre die einzige Gelegenheit in meinem Leben gewesen, an einer Hochzeit teilzunehmen, die einzige. Und die wichtigste. Aber es war mir nicht vergönnt.
»Irgendwann musst du wirklich erwachsen werden, ma belle«, hatte Hélène gesagt und mich vom Schminktisch genommen, den Brautschleier zurechtgezupft und die Locken ihrer Tochter in die richtige Form gebracht.
»Dass du immer noch so an diesem alten Bären hängst!«
Dann rief sie in den Flur: »Wir sind fertig!«, und Jules kam herein, um seine Tochter abzuholen. Er tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und führte sein Nesthäkchen am Arm hinaus. Ich sah ihnen hinterher und war mindestens so stolz und noch viel gerührter als er. Die Liebe in meiner Brust glühte.
Wir zogen in eine riesige Wohnung in der Via Pompeo Magno, unweit des Vatikans. Dort lebte Giannis uralte Großmutter Chiara, die aber von allen nur Nonna gerufen wurde (aber auch das ließen sie bald, denn Nonna Chiara hörte immer schlechter). Zur Hochzeit verließ sie das Haus zum letzten Mal.
»Was soll ich draußen? Es ist heiß und stickig, und die Autos würden mich überfahren. Vielleicht würde ich ausgeraubt. Nein, ich bin zu alt«, sagte sie später und setzte sich auf die Häkeldecke auf ihrem Sofa, schaltete den Fernseher in voller Lautstärke an und war zufrieden. Morgens goss sie im Schneckentempo die Blumen, mittags überwachte sie die Produktion der Pasta (»Oh Isabelle, mein Mädchen, du musst noch viel lernen!«), nachmittags hielt sie ein Nickerchen und schnarchte laut dabei, abends trank sie ein Gläschen Tokajer und ging nach den Spätnachrichten auf Rai Uno ins Bett. Wir hatten einen geregelten Tagesablauf.
Bis auf die Zeit der Schwangerschaft, in der sich Isabelles Verhältnis zu mir noch einmal intensivierte, weil ihr so entsetzlich elend war und sie altvertrauten Trost benötigte, wurde Nonna Chiara meine beste Gesellschafterin. Als dann die kleine Giulia geboren wurde, versuchte Isabelle, mich als Stofftier Nummer eins in der Wiege zu etablieren, doch das samtweiche Kuschelschaf, das ausgerechnet Hélène zur Geburt schickte, wurde von der feinen Signorina Bontempelli vorgezogen.
Ich gab alles, doch ich blieb erfolglos. Aus Gewohnheit wurde ich noch ein paar Jahre hierhin und dorthin mitgeschleppt, aber es war nicht zu übersehen, dass Isabelle endgültig andere Prioritäten setzte. Es gab Wichtigeres in ihrem Leben, und sie hatte einen anderen besten Freund gefunden. Langsam, aber sicher wurde aus Mon ami Marionnaud wieder ein Gegenstand. Ich verlor an Bedeutung, nicht auf einmal, sondern leise schleichend.
1976, als die kleine Prinzessin Giulia drei Jahre alt war, fuhren wir aus Gründen der Nostalgie zunächst nach Florenz und dann weiter nach Fiesole. Sie buchten ein Zimmer in der verwunschenen Pensione Bencistà – Isabelle hatte schon immer eine romantische Ader gehabt.
Abends im Bett, als Giulia friedlich schlief, kuschelte Isabelle sich an Gianni und holte ein Buch aus ihrer Handtasche. »Ich lese dir etwas vor«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange, dann schlug sie eine Seite auf und sprach:
»Als er sie kommen hörte, drehte George sich um. Einen Moment ließ er versonnen den Blick auf ihr ruhen, gleichsam als wäre sie vom Himmel gefallen. Er sah strahlende Freude in ihrem Gesicht, er sah die Blüten in blauen Wogen ihr Kleid umfließen. Die Sträucher über ihnen schlossen sich. Rasch trat er vor und küsste sie.« *
Sie verstummte.
»Courage«, sagte Gianni leise. »Courage and love.«
Courage and love. Daran hatte sich nichts geändert. Das verband sie.
Alles war gut, so gut wie noch nie.
Am nächsten Morgen fuhren sie ohne mich ab.
Isabelle kam nicht zurück, um mich zu holen.
Nach drei Tagen bangen Hoffens und Wartens sah ich ein, dass ein neuer Lebensabschnitt vor mir lag. Da hatte ich bereits zwei Nächte an der Rezeption verbracht. Signora Simoni hatte nicht lange gezögert und mich gleich, nachdem sie mich auf dem Louis-XV.-Sessel gefunden hatte, dorthin gesetzt.
Ich habe viele Menschen kommen und gehen sehen. In meinem Leben, vor allem aber in der Pensione Bencistà.
Die meisten unserer Gäste kamen aus England, Schottland und Amerika. Viele von ihnen waren auf der Suche nach einem stillen
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