Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
gefiel mir auch. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich bis heute Realist geblieben. Ich habe mich nie zufriedengegeben, sondern zumindest auf das Unmögliche gehofft, auch wenn es nur selten gefruchtet hat.
Isabelle war in diesen wilden Maiwochen nur selten zu Hause, manchmal kam sie, um sich einen Pullover zu holen oder um ihre Weste mit Fellbesatz gegen den Wollmantel auszutauschen, weil die Luft doch noch kühl war und ihr das Asthma mehr zusetzte als je. Sie hustete und rauchte, und ich sah zu, wie sie immer blasser und müder wurde. Doch ich bemerkte auch, dass die Traurigkeit verschwand. Es half ihr zu kämpfen. Es hatte ihr schon immer geholfen.
Als Ende Mai die Straßenschlachten vorüber waren, als der Generalstreik aufgehoben war, wir schon längst wieder Strom hatten und im Radio die Nachricht kam, dass de Gaulle Neuwahlen ankündigte – was auch immer das für Folgen haben mochte –, kam auch Isabelle langsam wieder zur Ruhe. Der Sturm hatte sich gelegt, doch ihr Herz blieb verschlossen. Kein Einlass – für niemanden.
Es dauerte noch weitere zwei Jahre, bis ich den Satz »Mon ami, ich glaube, ich bin verliebt«, wieder hörte. Zwei Jahre, in denen Isabelle ansonsten jedoch keinem Abenteuer aus dem Weg ging und das Leben fast mit Gewalt herausforderte. Sie ließ sich die Haare wachsen, trug bunte Schlaghosen und experimentierte mit merkwürdigen Substanzen herum, von denen sie entweder unerträglich fröhlich oder schrecklich niedergeschlagen wurde. Sie probierte alles aus. Nur von Männern hielt sie sich fern.
Ich saß auf dem Fensterbrett und beobachtete das Geschehen. Mit wachsendem Argwohn. Was war aus meiner kleinen Isabelle geworden? Aus der Heldin im Feuer, aus dem willensstarken Mädchen, aus der jungen Frau, die so entschlossen war, die Liebe zu finden?
»Weißt du, Mon ami«, nuschelte sie mir einmal ins Ohr, nachdem sie eine Reihe selbst gebackene braune Kekse vertilgt hatte, »ich verstehe nicht, was das mit der freien Liebe überhaupt soll. Alle schreien nach freier Liebe. Ich brauche keine freie Liebe. Ich habe keine Liebe. Liebe ist was für Idealisten und Idioten. Wo ist denn die Liebe? Es gibt sie gar nicht. Ich weiß das, vertrau mir. Genau.«
Dann schlief sie ein.
Als sie zwei Tage später endlich wieder richtig wach war, quälte sie sich aus dem Bett. Nachdem sie zehn Minuten auf ihrem Matratzenlager gesessen und ins Leere gestarrt hatte, erhob sie sich mühsam und ging unter die Dusche. Sie duschte lange. Dann stand sie mit dem Handtuch um die Brust geschlungen mitten im Zimmer, sah sich um und sagte laut:
»Jetzt ist aber Schluss.«
Sie hörte sich fast an wie Hélène.
Eine Weile später zogen wir nach Rom. Oder flohen wir? Ich weiß es nicht. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass es gegen den Willen ihrer Eltern geschah, die noch lebhaft in Erinnerung hatten, wie der letzte Italienaufenthalt zu Ende gegangen war.
Isabelle lernte Italienisch, verfolgte ihr Studium mit eisernem Willen und meldete sich zum Examen. Mit zwei anderen Studentinnen teilten wir uns eine Wohnung in der Via Claudia, die Isabelle nur genommen hatte, weil sie vom Balkon aus (wenn sie sich streckte und auf Zehenspitzen stellte) das Kolosseum sehen konnte. Über ihr Bett hängte sie ein Fünzigerjahre-Poster, das ein Paar auf einem Motorroller zeigte.
Langsam erkannte ich ein wenig von der alten Isabelle wieder. Sie versuchte nicht mehr, jemand anders zu sein, sie vergrub sich nicht mehr in einem dunklen Zimmer und dunkler Musik. Und sie stand nach wie vor zu mir.
»Das ist Mon ami«, stellte sie mich Francesca und Madeleine vor, als wir eingezogen waren. Die beiden Mitbewohnerinnen standen in Isabelles Zimmer und schauten mich zweifelnd an. Madeleine kicherte.
»Er gehört zu mir. Es gibt keinen Grund, sich darüber lustig zu machen«, sagte Isabelle streng und fuhr ohne Umschweife fort: »Wenn ihr mir jetzt bitte die Hausordnung erklären würdet, oder kann hier jeder machen, was er will?«
Ich musste lachen. Madeleine verstummte, und Francesca sagte:
»Wir kaufen reihum Milch, Kaffee und Brot ein. Geputzt wird einmal die Woche, Studieren nur im Notfall, Sex nur bei verschlossener Tür, Drogen nur gemeinsam, noch Fragen?«
Für eine Sekunde schien Isabelle verunsichert, dann fing Madeleine wieder an zu kichern.
»Alles klar«, sagte Isabelle. »Erinnert mich daran, wenn ich vergesse, die Tür zuzumachen.«
Soweit ich es beurteilen kann, führten die drei Mädchen ein unbeschwertes Leben, dessen
Weitere Kostenlose Bücher