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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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geriet ins Wanken.
    Plötzlich war es, als gäbe es zwei Friedrichs. Friedrich, den gehorsamen deutschen Soldaten, der Dienst für sein Vaterland tat, der keine Fragen stellte und nicht merken wollte, welchen Schrecken er verbreitete. Und Friedrich, den Rheinländer mit dem sonnigen Gemüt, der die Tage an der Seite seiner Marlene genoss, der das Essen liebte und Blumen pflückte.
    Zweifel waren mir bereits gekommen, als Friedrich diesen Brief schrieb. Aber nun wusste ich gar nicht mehr, was ich denken und was ich fühlen sollte, denn Marlene war mir auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Und den anderen, bisher unbekannten Friedrich fand ich auch nicht verkehrt.
    Dilemma ist noch vorsichtig ausgedrückt für den Zustand, in dem ich mich befand.
    Ich beobachtete die beiden, suchte in ihrem Verhalten und ihren Aussagen nach Beweisen für ihre Fehlbarkeit und fand doch nur heraus, dass ihr größter Fehler war, dass sie Menschen waren.
    Ich fühlte mich wie ein Verräter, als ich mir nach drei oder vier Tagen endlich eingestand, dass ich Marlene und Friedrich mochte. Ich mochte also zwei Deutsche. Zu sagen, ich mochte die Deutschen, wäre eine unpassende Vereinfachung, und außerdem stimmte es nicht. Ich fand nämlich ziemlich bald heraus, dass Deutscher längst nicht gleich Deutscher war. Es gab tatsächlich entscheidende Unterschiede. Das begriff ich erst, als unser Nachbar Karl Freiberg eines Nachmittags plötzlich bei uns im Flur stand und ich Zeuge eines merkwürdigen Gesprächs wurde:
    »Karl«, sagte Marlene kurz, als sie die Tür öffnete. »Friedrich ist nicht zu Hause.«
    »Dann warte ich gern einen Moment.«
    »Es dauert noch …«
    »Ach, wir beide können doch auch ein Schnäpschen zusammen trinken, oder?«
    Ohne ein weiteres Wort bat Marlene ihn herein.
    Er nahm im Wohnzimmer Platz und ließ sich mit Calvados bedienen, den Friedrich aus Frankreich mitgebracht hatte. In freundschaftlichem Ton plauderte er drauflos, doch die sonst so redselige Marlene antwortete nur einsilbig. Plötzlich senkte Freiberg die Stimme:
    »Ich bin noch aus einem anderen Grund gekommen.«
    Sie sah ihn fragend an.
    »Friedrich ist ein treuer Diener für das Vaterland«, fuhr Freiberg jovial fort und hob sein Glas. »Aber du hast auch Pflichten. Prost.«
    »Ich kenne meine Pflichten«, sagte Marlene.
    »Ehrlichkeit gehört auch dazu«, sagte Karl Freiberg mit leiser Stimme.
    Marlene schwieg. Etwas an Karls Tonfall ließ mich misstrauisch werden. Es klang falsch, berechnend und – auch wenn es sich pathetisch anhört – irgendwie böse.
    »Uns ist bekannt, dass du Kontakt zu einer Jüdin namens Sarah Rosenberg unterhalten hast. Ich würde ihr gerne ein paar Fragen stellen, aber Frau Rosenberg ist seit einigen Wochen nicht auffindbar. Kannst du mir das erklären?«
    »Den Namen habe ich noch nie gehört«, sagte Marlene ruhig. »Du musst dich irren.«
    »Die Gestapo hat nicht die Angewohnheit, sich zu irren«, erwiderte er.
    »Ich weiß«, sagte Marlene. »Aber ich kenne keine Sarah Rosenkranz.«
    »Berg.«
    »Berg, Entschuldigung.«
    »Du bist eine kluge Frau, Marlene. Aber ich rate dir eines, treib es nicht zu weit. Du willst doch deinen Friedrich nicht an der Ostfront haben …«
    Eiskalte Stille machte sich breit, Freiberg erhob sich und ging zur Tür.
    »Erwarte nicht von mir, dass ich euch schütze«, sagte er drohend, bevor er hinaustrat. »Deutschland ist ein Land, in dem Verräter keinen Platz haben.«
    »Ich bin ganz deiner Meinung, Karl«, sagte Marlene langsam. »Danke, dass du gekommen bist.«
    Ich hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel.
    »Widerlicher Kerl«, sagte sie laut.
    Ich saß mit gesträubtem Nackenfell auf dem Sofa und versuchte zu verstehen, warum mir dieses kurze Gespräch so gegen den Strich gegangen war.
    Allein die Stimme dieses Karl Freiberg hatte ausgereicht, um sämtliche Ängste und Vorurteile, die ich Deutschen gegenüber gepflegt hatte, wiederzubeleben.
    Es dauerte noch zwei Tage, ein Kaffeekränzchen mit Tante Lottchen, Friedrichs Schwester Franziska und Schwägerin Fritzi sowie drei Flaschen Rotwein, dann war ich zu folgender Theorie gelangt:
    Es schien in diesem Land hauptsächlich drei Gruppen zu geben. »Das Volk«, die Nazis und die Juden – »Das Volk« waren Leute wie Marlene, Franziska und Tante Lottchen. Der Führer und Karl Freiberg, unser Nachbar, waren Nazis, und Sarah, Marlenes beste Freundin, war Jüdin.
    Wenn ich es richtig verstand, sollte »Das Volk« im Großen und

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