Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Auf Zehenspitzen schlich sie in der letzten Nacht aus dem Bett, nahm mich vom Sessel und drückte mich obenauf ins Marschgepäck.
Was machst du denn da? Das kannst du doch nicht tun!
Der vertraute Geruch des Rucksacks schlug mir mit Macht entgegen. Die Erinnerung an die Monate der Dunkelheit waren noch frisch und meine Freundschaft mit Marlene und Friedrich noch jung. Der alte Widerwille wallte in mir auf. Die ganze Nacht rang ich mit mir.
Doch als Friedrich sich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg nach Bielefeld machte, um zu seiner neuen Division zu stoßen, war ich bereit. Ich würde Friedrich dabei helfen, ein Mensch zu bleiben, würde die Brücke sein zwischen seinem Kopf und seinem Herzen. Diese Kluft kann nämlich manchmal schier unüberwindbar sein. Ich war bei ihm. Nur wusste er nichts davon. Ich war ein blinder Passagier.
Im Dunkel seines Gepäcks wartete ich geduldig darauf, dass er mich entdeckte. Zum ersten Mal war ich froh, in diesem Rucksack zu sein, weil ich nicht mit ansehen musste, wie der Abschied diesen beiden Menschen das Herz zerriss. Marlenes tränenüberströmtes Gesicht, ihr tapferes Lächeln und ihr einsamer Blick – all das sah ich an diesem Tag noch nicht.
Als sie sich zum Abschied umarmten, hörte ich ihre Stimme ganz nah.
»Komm gesund zurück, mein liebster Fritz. Ich werde den Herrgott darum bitten, jeden Tag. Dein kleines Frauchen braucht dich hier, vergiss das nicht. Bitte, bitte bleib am Leben.«
Und Friedrich schwieg und drückte sie fest an sich, so fest er konnte.
Alles, was ich über die Liebe gelernt hatte, lag in dieser Umarmung. Mir war, als könnte ich die beiden Herzen schlagen hören, im Takt, wie eines, und hätte ich weinen können, ich hätte es getan.
Gol empfing uns in Stille.
Keine Schüsse, keine Jagdflugzeuge. Ich hörte ein weit entferntes Bimmeln, ein Hund bellte, anschließend ein Offizier. Doch ansonsten waren nur die üblichen Geräusche zu hören, die Menschen, insbesondere Soldaten machen. Nichts Ungewöhnliches. Durch den groben Stoff drangen fremde Gerüche an meine Nase. Es roch nicht nach Straße, nicht nach Abgasen, nicht nach Kohlekaminen. Ich witterte einen Anflug von Frische. Die Wiese in Madame Denis’ Garten erblühte vor meinem inneren Auge.
Wo waren wir gelandet?
Wir waren fünf Tage unterwegs gewesen. Mit dem Truppentransporterschiff von Dänemark nach Oslo in Norwegen – ich kann nur sagen: Mit der First-Class-Überfahrt auf der RMS Majestic hatte diese Seereise so viel gemein wie Granatäpfel mit Erdäpfeln. Von Oslo aus zog die Einheit nach Norden, erst mit der Bahn und dann zu Fuß, und die Soldaten waren dabei bester Laune – was in mir wieder den alten Abscheu aufkommen ließ. Worüber konnte man sich denn freuen?
Als sie unterwegs Rast machten, ihr schweres Gepäck neben sich abstellten und mit ihren Metallbechern Wasser aus einem Bach schöpften, sagte Rudi, der auch schon in Paris dabei gewesen war:
»Mensch, Fritz, was haben wir ein Glück! Norwegen. Besser kann unsereiner es doch kaum treffen.«
Er stieß seinen Becher gegen Friedrichs.
»Prost, alter Junge!«, sagte Friedrich. »Trinken wir darauf, dass der Norweger friedlich bleibt und nicht auf dumme Ideen kommt.«
»Das glaube ich nicht. Der Führer hat schon recht: Sie sind eben auch Germanen. Wie wir. Die wissen, was gut für sie ist. Und den Rest bringen wir ihnen schon bei.«
Sie waren tatsächlich der Ansicht, sie hätten es gut getroffen. Ich fand allein die Vorstellung absurd. Erst vier Jahre später, als alles vorbei war und ich mehr Zerstörung und Leid erlebt hatte, als für Mensch oder Bär gut sein kann, begriff ich, dass ein Soldat in diesem Krieg durchaus der Ansicht sein konnte, er hätte es gut getroffen, wenn er nach Norwegen geschickt wurde. Denn eigentlich standen die Chancen, mit dem Leben davonzukommen, gut. Und das war für die meisten das Einzige, was zählte.
Eine laute Stimme durchschnitt die Ruhe und brüllte einen Befehl.
»Antreten zum Appell!«
Bewegung kam auf, ich spürte, wie Friedrich seinen Rucksack erneut schulterte, sicher schon zum zehnten Mal an diesem Tag, doch er murrte nicht.
»Welkomen in Norge!«, schrie eine Männerstimme, die dem Befehlston nach mindestens dem Spieß gehören musste, in falschem Norwegisch. »Welkomen tüske kamerater!«
Ein Raunen ging durch die Menge, das sofort erstarb, als der Mann zu einer langen Rede anhob, in der er die neu angekommenen Kameraden im Schulhaus des Ortes
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