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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Ganzen alles tun und glauben, was der Führer sagte, und ansonsten keine Fragen stellen. Währenddessen sorgten berufene Scheusale wie Karl Freiberg, die sich für die Diamanten in der Krone der Schöpfung hielten, dafür, dass Juden wie Sarah einen gelben Stern auf der Brust trugen und dann von der Bildfläche verschwanden, denn laut Führermeinung waren sie eine minderwertige Rasse. Und weil dies die Führermeinung war, musste »Das Volk« zumindest so tun, als glaubte es dasselbe, denn alle wussten: Zuwiderhandlung wurde schwer bestraft.
    Ich konnte das kaum glauben. Waren denn hier alle verrückt geworden? Ich hätte viel darum gegeben, Victors Meinung zu diesem Unsinn zu hören.
    Wem sollte man denn noch trauen? Man konnte ja kaum noch dem eigenen Urteil glauben.
    Ich meinte zu wissen, dass Friedrich ein einfach gestrickter Soldat war. Aber wie weit würde er in der Ausübung seiner Pflicht gehen? Wäre er in der Lage, einen Menschen zu töten? Hatte er das womöglich sogar schon getan? Ich konnte es ihm nicht ansehen. Genauso wenig wie ich Karl Freiberg angesehen hatte, dass er bei der Gestapo war und harmlose Leute verfolgte, weil in ihren Adern nicht das vermeintlich richtige Blut floss.
    Mal ehrlich: Hat sich eigentlich mal irgendjemand gefragt, wie es ist, wenn man als Teddybär in einen Krieg gerät? Vermutlich nicht. Ich kann nur sagen: Es ist fruchtbar. Ich hatte die Nase voll davon.
    Meine Natur sieht Kriege nicht vor. Ich bin nicht zum Hassen gemacht.
    Was Menschen dazu bringt, aufeinander zu schießen, ist für ein Bärenherz unbegreiflich. Ich bin nicht Kinderfreund, nicht Frauen- oder Männerfreund, nicht Soldatenfreund, nicht Widerständlerfreund – ich bin Menschenfreund, das ist meine Bestimmung. In meiner Brust ist doch die Liebe, sonst nichts.
    Und es war Liebe, die ich in diesen acht Tagen Heimaturlaub spürte. Marlene und Friedrich genossen jede Minute. Doch acht Tage sind acht Tage und nicht neun oder zehn oder gar ein Jahr. In den stillen Momenten, kurz vor dem Einschlafen, wenn Marlene sich dicht an Friedrich kuschelte, blitzte in der Dunkelheit manchmal das Damoklesschwert seiner drohenden Abberufung auf. Niemand wusste, wohin er versetzt werden würde. Sein Schicksal war ungewiss.
    Am Vorabend von Friedrichs Abreise zeigte sich der April von seiner launischen Seite. Tagsüber war es herrlich warm gewesen. Marlene und Friedrich waren lange fort, sie waren durch die Rheinauen spaziert, sicher hatten sie einander an den Händen gehalten und sich viele liebe Dinge gesagt, wahrscheinlich hatten sie im Gras gelegen und den stillen Tag genossen, und sicher hatten sie nach Kräften versucht, die bangen Gedanken an die kommende Einsamkeit aus ihren Köpfen und Gesprächen zu verbannen. Abends zog plötzlich ein Unwetter auf.
    Es war nicht länger aufzuschieben. Friedrich musste packen.
    Ich saß auf dem Ehebett in Köln und sah dabei zu, wie Marlene sorgsam Unterwäsche und Friedrichs Hemden faltete. Sie packte Stopfgarn ein und ein Paar dicke, wollene Socken.
    »Es kann ja noch mal kalt werden«, sagte sie leichthin.
    Doch wir wussten alle, dass sie befürchtete, er würde nach Osten geschickt.
    »Viel passt da wirklich nicht rein«, fuhr sie schnell fort und drückte noch einmal nach.
    »Wer nicht lang fortbleibt, muss auch nicht viel einpacken«, sagte Friedrich und umfasste von hinten ihre Taille. »Ich bin schon bald wieder bei dir, du wirst sehen!«
    »Wenn der Herrgott doch nur seine Ohren solchen Wünschen nicht verschließen würde«, sagte sie.
    »Ich bin eines seiner liebsten Kinder, glaub mir«, sagte Friedrich, und mit diesen Worten verschnürte er sein Marschgepäck.
    Ich sah ihm mit gemischten Gefühlen dabei zu. Dieser Friedrich war mir irgendwie lieb geworden, ich mochte seine kleinen Gesten, sein Lächeln und die Art, wie er seiner Marlene mit dem Daumen über die Augenbrauen strich. Ich hatte verstanden, dass er diesen Krieg als unvermeidliche Tatsache akzeptiert hatte. Er war keiner, der sich auflehnte, aber auch keiner, der nach mehr schrie. Eigentlich wollte er am liebsten einen Stammhalter kriegen und seine Ruhe haben. Doch der Führer hatte entschieden: Friedrich musste weiterkämpfen, fürs Vaterland. Marlene und ich würden hier auf ihn warten. So wie Alice auf William gewartet hatte, damals, in einem anderen Krieg.
    Doch so leicht sollte ich nicht davonkommen, denn Marlene liebte nicht nur Friedrich, sie liebte auch Überraschungen und hielt mich für eine geeignete.

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