Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Vergleich zu Henry Okah war er dünn, fast schmächtig, und trotzdem ging von ihm eine starke Kraft, eine Aura aus, die Respekt einflößend war.
»Dieser Einsatz ist äußerst wichtig. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Umaru sah zum General der MEND auf und nickte.
»Wir werden die Geiseln morgen Abend evakuieren.«
»Die beiden Ärzte?«
»Ja, und das Mädchen.«
»Du leitest die Operation«, fuhr Henry Okah fort. »Du fährst den Fluss hinunter bis zum Meer. In der Mündung erwartet euch ein Schiff.«
Yaru Aduasanbi ging in die Hocke, um einen Panzerschrank zu öffnen, der unter dem Computertisch versteckt war. Er sah die aufgeschichteten Akten durch und nahm eine schwarze Aktenmappe heraus, die er Umaru hinhielt.
»Das ist der Einsatzplan. Euer Zeitfenster ist eng, die Küstenwache kontrolliert die Mündung.« Er breitete die Karte aus und deutete mit dem Finger auf den gewundenen Flusslauf. »Das Schiff ankert hier.«
»Wie viele Boote nehme ich mit?«, fragte Umaru.
»Drei mit Besatzung. Die Geiseln kommen mit dir. Wenn es das geringste Problem gibt«, fuhr Aduasanbi fort, »blast ihr die Operation ab und kehrt ins Lager zurück. Die Sicherheit von Naïs hat höchste Priorität.«
»Noch etwas«, fügte Okah hinzu, der sich eine Zigarette anzündete, »sobald das Mädchen an Bord des Schiffs ist, tötest du die beiden Franzosen. Sorg dafür, dass ihre Leichen nie gefunden werden.«
Umaru schlug die Hacken zusammen. Sergeant Stona tat es ihm gleich.
»Verstanden, Herr General.«
19
Benjamin fuhr aus dem Schlaf hoch – er wusste nicht, ob er eine Stunde oder eine Minute geschlafen hatte. Der Traum, den er gerade verlassen hatte, hing ihm noch nach, und Bruchstücke von Bildern zogen an seinem inneren Auge vorbei.
Seit ihrer Entführung aus dem Waisenhaus von Owerri pendelte sein Leben in dieser Weise zwischen Traum und Albtraum hin und her. Nur der körperliche Schmerz, der Muskelkater und der Hunger erlaubten ihm, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Aber das Brennen der Stricke um seine Handgelenke verfolgte ihn bis in den Schlaf.
Er wandte sich zu Jacques um, der am anderen Ende des Raumes gefesselt war, und diese leichte Anstrengung erschöpfte ihn. Er fühlte sich wie ein Unfallopfer oder ein Boxer nach einem Kampf. Die Angst war einem Gefühl gewichen, das fast ein Sichfügen war. Jacques hatte diesen Punkt noch nicht erreicht und blieb überzeugt davon, dass MSF und die französische Regierung Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um sie zurückzuholen. Er flüsterte Benjamin unentwegt zu, dass sie nicht sterben würden, und dieser fragte sich, wann er sich endlich mit den Tatsachen abfinden würde.
Er hörte ein Murmeln, das von draußen kam, und senkte den Kopf.
Yaru Aduasanbi und Henry Okah traten ein, ohne den beiden Geiseln die geringste Beachtung zu schenken. Sie gingen bis zu dem Feldbett, auf dem das kleine Mädchen lag, das am Fußknöchel mit einer Schnur an einen Pfosten gebunden war. Unter dem Moskitonetz versuchte sie, die bunten Stofffetzen des Mobiles zu erhaschen, das sich langsam über ihrem Bett drehte. Geflochtene Schnüre und gestrickte Puppen hingen an den Enden der Arme und wirbelten im Drehen den Staub auf, der überall in der Hütte lag.
»Wann bekommen wir das Geld?«, fragte Okah.
Benjamin hob den Kopf ein wenig an. Die massige Gestalt von Henry Okah hob sich kaum von der Dunkelheit ab, nur das schwache rötliche Leuchten, das durch die Palmzweige des Dachs drang, hüllte ihn ein. Aber auch wenn er Okahs Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, ahnte er, dass eine abergläubische Furcht den MEND -General davon abhielt, sich dem Kind zu nähern.
»Sobald das Schiff internationale Gewässer erreicht und der Käufer Naïs wiederhat.«
Okah schwieg einige Sekunden lang.
»Ich fürchte, wir machen einen Fehler, Yaru.«
»Hundert Millionen Dollar für ein Kind, das kann man doch wohl kaum als Fehler bezeichnen«, sagte Aduasanbi lächelnd.
»Dieses Mädchen ist eine Hexe, und du weißt das.«
»Red keinen Blödsinn! Seine Krankheit hat nichts mit irgendeinem Fluch zu tun.«
»Quatsch! Sie ist verhext, wenn ich’s dir sage!«, brauste Okah auf.
»Wieso warst du dann damit einverstanden, sie zu entführen?«
»Weil es mir lieber ist, dass sie in unserer Gewalt ist als in der der Regierung.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach mit ihr machen? Sie umbringen?«
Henry Okah richtete seinen Blick auf Naïs.
»Ja, nachdem wir ihr den Teufel
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