Die Unseligen: Thriller (German Edition)
nickte nur zustimmend.
»Glauben Sie, dass Sie gehen können?«, fragte Jacques.
»Ja … «
Jacques blickte Richtung Fluss. Die Luftkissenfahrzeuge der MEND jagten in wilder Flucht davon, verfolgt von den Kampfhubschraubern.
»Schauen wir, dass wir hier wegkommen.«
Das Urteil
»Wartet nicht auf das Jüngste Gericht. Es findet alle Tage statt.«
Albert Camus, Der Fall
34
Joliba auf Manding.
Isa ber auf Songhai.
Ngher auf Tuareg.
Der Niger, der schönste Fluss der Welt, das Gedächtnis Afrikas. In den Lomabergen entspringend, schlängelt er sich über viertausend Kilometer dahin und reißt in seiner Strömung Sprachen und Gewohnheiten mit, ehe er seine Seele aushaucht und in den Fluten des Golfs von Guinea aufgeht. Bis in seinen Schlamm hinein von Geschichte gesättigt, hat er die Jahrhunderte durchquert, die Hoffnungen auf Glück britischer und französischer Siedler getragen, Träume von Unabhängigkeit und Revolte ausgebrütet. Beim Überfliegen dieses Stromes war Taiwo Akinkunmi die Inspiration für die Gestaltung der Nationalflagge Nigerias gekommen.
Ein senkrechtes weißes Band, eingerahmt von zwei grünen Balken. Ein Symbol für Frieden und Einigkeit.
Doch dieses weiße Band hätte rot sein müssen. Zu viel Blut war in diesen Strom geflossen, dachte Yaru Aduasanbi. Er drehte sich um und stand vor einer Menge, in deren Mitte sich Henry Okah befand. Der General der MEND , der ein schwarzes Barett trug, starrte ihn düster an. Zwanzig Meter entfernt, wartete schweigend der Großteil der Truppe. Yaru Aduasanbi betrachtete die in Reih und Glied angetretenen Phantome des Deltas, diese Bauern und Fischer, denen er eine gerechtere Welt versprochen hatte, und ihm wurde kurz schwindlig. Auf ein Zeichen Okahs hin trug Umaru Atocha Naïs herein und legte sie zwischen den beiden Männern ab.
Er senkte den Kopf und trat ins Glied zurück, wobei er mit der Hand diskret die Verbände berührte, die seine Verletzungen bedeckten.
»Ich hatte dich gewarnt, Yaru«, sagte Okah. »Dieses Kind zieht den bösen Blick an. Es ist eine Gefahr für uns alle.«
»Den bösen Blick?« Aduasanbi seufzte. »Forman Stona war schon lange vor der Entführung von Naïs bei uns, lange bevor wir von ihrer Existenz wussten. Das ist nicht der böse Blick, sondern ein Fehler von uns. Wir sind nicht vorsichtig genug gewesen.«
»Du irrst dich, Yaru. Wir wurden bestraft, weil wir diese Hexe angerührt haben und sie verkaufen wollten.«
»Hör auf mit diesem Blödsinn!«, wies Aduasanbi ihn scharf zurecht. »Hexen, Geister, die nganga – das sind doch alles Hirngespinste!«
Die Menge quittierte seine Worte mit einem Murren. Aduasanbi begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er kannte die abergläubischen Anschauungen der Einheimischen nur zu gut, diese Überzeugungen, die zum Beispiel die Bewohner eines Dorfes in der Region Calabar dazu veranlasst hatten, zwanzig schwangere Frauen lebendig zu begraben, um die Fruchtbarkeit des Bodens zu steigern. Aber auch wenn er sie verachtete, hatte er seine Meinung niemals offen kundgetan. Die Männer, die bereit waren, für ihn zu sterben, waren von dieser Kultur durchdrungen, und der Glaube, dass das Diesseits von Geistern bevölkert war, die ihre Familien beschützten, war für sie lebensnotwendig. Was bliebe ihnen denn sonst noch?
»Dieses Kind hat dein Herz vergiftet«, sagte Okah. »Wir müssen ihm den Teufel austreiben.«
»Du weißt nicht, was du sagst.«
Henry Okah bückte sich zu Naïs herunter und hob das Hemdchen an, das ihren Bauch bedeckte. Die Männer der MEND wichen zurück, als sie die rituellen Narben um den Nabel des Kindes sahen.
»Seine Mutter hat es gezeichnet! Und dann hat sie es in die Obhut des Priesters gegeben, weil sie Angst vor ihm hatte.« Ein erneutes Murren unterstrich die Worte Okahs. »Die Regierung hat es in ihre Gewalt gebracht, damit es uns Unglück bringt! Unsere achtzehn Brüder, die heute gestorben sind, sind der Beweis dafür!«
»Sie hat eine Erbkrankheit! Das ist keine Hexerei!«
»Ach ja? Und wieso konnten die Ärzte sie dann nicht behandeln? Wieso kennen sie nicht einmal den Namen dieser Krankheit ?«
Yaru Aduasanbi antwortete nicht, da ihm klar wurde, dass sie keines seiner Argumente überzeugen würde.
»Ihr wird kein Haar gekrümmt!«, sagte er.
»In diesem Fall kann sie nicht hierbleiben.«
»Deshalb müssen wir sie zu unseren Geldgebern bringen. Die MEND ist auf dieses Geld angewiesen.«
»Keiner meiner Männer wird für sie sein
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