Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
sie raffte ihre Kleider, setzte sich und sah auf die Angekommenen hinab.
»Kaiserin«, sagte Faramund bloß, ohne die Hände aus den Ärmeln seiner Kutte zu ziehen. Seine Stimme war hoch und dünn, er sprach seltsam melodisch, leise und drohend.
Alma verschränkte die Hände. »Du bist ein seltener Gast, Faramund«, entgegnete sie dann unsicher. »Was bringst du?«
Jonas sah zu Ruben hinüber. Er hatte sich nicht gerührt. Wusste er, was hier geschah?
»Ich bringe nichts, Kaiserin.« Faramund klang ebenso freundlich wie unverschämt. Alma hatte Angst vor ihm, nicht umgekehrt – jeder hätte das hören können. »Ich bin gekommen, um etwas zu holen.«
»So?«, krächzte Alma.
»Deinen Gefangenen will ich, Kaiserin«, fuhr Faramund ungerührt in seinem Singsang fort. Dann zog er eine bleiche, fleischige Hand aus der Kutte und deutete auf Ruben. »Den.«
Jonas stöhnte auf. Auf das Schlimmste folgte das Allerschlimmste. Oder …
»Nein!«, entfuhr es Alma.
Aber Faramund beachtete sie gar nicht weiter. Zwei seiner gesichtslosen Jünger traten vor und fassten Ruben an den Armen. Ihre Hände waren so fein und weiß, als würden sie nie benutzt. Unwillkürlich wich Ruben zurück.
»Gebt dem Hirten, was des Hirten ist«, sagte Faramund so leise, als spräche er nur für sich selbst. Dann fasste er einen beliebigen Trabanten ins Auge und starrte ihn mühelos nieder. »Und noch etwas.« Er hob die dünne Stimme, bis sie scharf wie ein Messer war. »Der Hirte …«, Faramund ließ seinen Blick über die Menge schweifen. »Der Hirte sucht einen Jungen. Dieser Junge ist hier gewesen. Er wurde … gesehen .«
Jonas’ Gedanken rasten. Sie hatten … Sie wussten … Sie würden … Er drückte sich noch enger an Ole, so eng es nur ging. Faramund war auf ihrer Spur! Ole war in höchster Gefahr!
»Versteht ihr mich?« Faramunds Worte durchschnitten die Luft. »Dieser Junge gehört dem Hirten. Er hat ein blaues und ein grünes Auge. Sein Name ist Jonas Nichts.«
Das 26. Kapitel
Was fern ist, kommt nah
Jonas hielt die Perücke in der Hand, sein Haar war verschwitzt und klebte. Er rieb sich das Gesicht, als müsste er erst aufwachen. Sie suchten ihn ! Nicht Ole, sondern ihn! Aber warum?
Er starrte auf die Lichterflecken am Boden, auf das hellbraune Laub vergangener Jahre, die fette Erde und die grünen Sprösslinge, die sich ihren Weg ans Licht bahnten, mühsam, aber unverzagt. Hinter ihm schwappte der See ans Ufer, in flachen, kristallklaren, gleichmäßigen Wellen. Nach und nach ging Jonas’ Atem wieder ruhiger.
Ole und Lunette hockten vor ihm auf einem umgestürzten, bemoosten Baum. Auch der Hermes war hier gewesen, dann aber gleich wieder verschwunden, Jonas hatte es kaum bemerkt. Kanaria war nicht mehr als ein paar hundert Meter entfernt, doch von Bäumen und Strauchwerk verborgen.
Sie hatten den richtigen Moment abgepasst. Als Faramund seine Jünger sammelte, hatten sie sich in das Wäldchen zwischen Ufer und Auffahrt geschlagen – Lunette voraus, brechende Zweige, stoßweiser Atem. Nur aus den Augenwinkeln hatte Jonas noch gesehen, wie die anderen zur Fähre hinuntergingen, Faramund, Faramunds Jünger und Ruben, der wie ein Turm aus ihrer Mitte ragte. Den Stich, den ihm dieser Anblick versetzt hatte, spürte er noch jetzt. So lange hatte er Ruben gesucht und jetzt musste er ihn wieder ziehen lassen.
»Was bedeutet das alles?«, fragte er endlich, so, als hätten sie in ihrer Deckung nicht minutenlang geschwiegen.
Lunette schnaubte. »Sag du es mir, Jonas! Sag du es mir!« Der Marquis hatte die Hände flach auf den Stamm gestützt und die knochigen Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Die Sonne leuchtete ihm direkt ins Gesicht, in seinen tiefen Falten klebte verkrustetes Puder. Unwillig schüttelte Lunette den Kopf. »So weit ist er noch nie gegangen«, sagte er dann heiser. »Es geht zu Ende, ich weiß es genau. Früher hätte er das nicht gewagt.«
»Er? Wer?«, fragte Jonas. »Der Hirte?« Wenn er es bedachte, hatte Faramunds Erscheinen einen seltsamen Effekt. Einerseits war schrecklich, was geschehen war, und Jonas fühlte sich bedroht – ein Klumpen Angst saß fest in seiner Brust. Andererseits hatte ausgerechnet Faramund ihm und Ruben einen Aufschub gewährt. Ruben musste nicht an den Galgen. Und Alma war vorerst aus dem Spiel. Zumindest, wenn es Jonas gelang, die Insel zu verlassen. »Ich muss ihn einholen.« Eigentlich dachte Jonas bloß laut. Er würde Ruben folgen.
Oles Antwort kam
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