Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Emily fühlte sich auf einmal wie bei ihrem ersten Treffen in der Nationalbibliothek. Da waren mit einem Mal wieder die alte Arroganz und die nagende Ungeduld, für die er, wie Aurora ihr erklärt hatte, bei seinen Mitarbeitern berüchtigt war. »McDiarmid hat mir von dem, was damals in London geschehen ist, erzählt.« Worauf wollte er hinaus? »Lucifer und Lilith waren dafür verantwortlich, dass all die Kinder in der Stadt der Schornsteine verschwunden sind. Sie waren diejenigen, die den Menschen die Kinder geraubt haben, um deren Unschuld für sich zu gewinnen.«
Emily erinnerte sich an die alten, alten Geschichten von Rattenfängern und Skorpiontötern. Sie erinnerte sich daran, dass Eliza Holland und Lilith nun eine Person waren und Madame Snowhitepink die Dinge, für die Eliza sich heute schämte, ohne Skrupel getan hatte. Damals. Sie hatte es getan, um der Zeit zu trotzen.
»Eliza Holland«, sagte Tristan Marlowe leise, »könnte daran gelegen sein, die Menora zu besitzen, weil sie der Schlüssel zur Lade und der Schlüssel zu einem Leben ist, das lange währt.«
Emily hielt sich an der Tischkante fest und starrte auf das Bild, das Tristan Marlowe ihr zeigte. Das gezeichnete Bild einer seltsam geformten Pflanze, deren sieben dürre Äste sich an das Gesicht eines Kindes klammerten.
»Master Wittgenstein«, flüsterte er, »hat mir davon erzählt. Von den Kindern mit den Spiegelscherbenaugen.«
Emily wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Denn das, was sie Tristan vorhin gesagt hatte, war die Wahrheit gewesen. Sie vertraute Eliza Holland. Ja, sie war nach wie vor ihre Freundin. Irgendwie. Emily hatte daran geglaubt, doch nun begann sie zu zweifeln.
»Verstehen Sie jetzt, weshalb ich mit Ihnen darüber reden wollte?«
Sie hielt sich die Hände vor den Mund.
Schüttelte den Kopf.
»Die Welt«, sagte Tristan Marlowe, »ist eine Lügnerin.«
Emily starrte das Bild an.
Konnte es möglich sein, dass … Eliza mehr Lilith war, als sie sich selbst einzugestehen wagte?
Emily wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Die Welt war wirklich eine Lügnerin, und die windigen Wahrheiten, an denen sie sich oft so verzweifelt festzuhalten versuchte, waren so zerbrechlich wie das Lachen eines Kindes in der Dunkelheit eines Kellerlochs.
»Warum tun Sie das?«
»McDiarmid hat Eliza Holland nie getraut.«
Das war alles?
Tristan Marlowe rollte das Schriftstück zusammen. »Am Ende«, brachte er es auf den Punkt, »wissen wir gar nichts.« Er steckte das Papier in die Wand zurück, die es gierig verschluckte, bis nur noch ein Stück des Siegels zu sehen war. »Wir werden nach Prag reisen, und Mylady Holland wird in der Hölle nach dem Limbus und ihrem Gefährten suchen.« Seine Augen waren so hell, wie es seine Laune noch nie gewesen war. »Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass nichts so sein muss, wie wir glauben.«
Emily ging zur gegenüberliegenden Wand, betrachtete still die Buchrücken, die so viele alte, alte Geschichten hinter sich bargen. Fast konnte man sie schon leise wispern hören.
»Ich habe Ihnen vorhin eine Frage gestellt.« Sie drehte sich zu dem jungen Mann um, der noch immer neben dem Tisch stand. In seinem langen, schäbigen Mantel wirkte er so, als habe er diesen Raum hier seit Jahrhunderten nicht verlassen.
Ja, Tristan Marlowe würde vorzüglich in eine Bibliothek wie diese passen.
Sie war genauso staubig, wie er es war.
Fremd.
Geheimnisvoll.
»Ja?«
»Ich habe Sie gefragt, ob ich Ihnen trauen kann.«
»Und?«
»Kann ich Ihnen trauen?«
Er betrachtete den Knauf seines Gehstocks. »Wenn Sie jemandem trauen, dann können Sie verletzt werden.« Hart und kalt wie der Winterwind war seine Stimme mit einem Mal. »Nein, Miss Emily, es ist nicht gut, jemandem zu vertrauen.« Er zögerte, kurz nur. »Trauen Sie mir besser nicht.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und hatte die Bibliothek verlassen, bevor Emily etwas hatte erwidern können.
Allein blieb sie zurück und lauschte dem wispernden Winterwind, der Lügen oder nur Geschichten zu spinnen vermochte in den eisigen Weiten der Hölle, wer konnte das schon sagen? Alles war möglich, wenn die Welt eine Lügnerin war, und sie selbst war doch nur ein Waisenmädchen, das nicht einmal wusste, wohin es gehörte.
Das war alles.
Und so viel.
Kapitel 3
El-Khamsin
Wenn in der Hölle ein neuer Tag anbricht, so ist dies wie ein neues Leben, das am Horizont heraufzieht. Die Wesen, die im Schutz der Dunkelheit ihre Beute gejagt
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