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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ab zu wandern und erinnerte Aurora einmal mehr an Maurice Micklewhite, der zuweilen auch ein unruhiger Geist hatte sein können. Das Monokel baumelte jetzt an einer Kette vor seiner Brust.
    »Vielleicht sollten wir warten, bis Emily und Wittgenstein zurückgekehrt sind?«
    Tristan Marlowe schüttelte den Kopf. »Warum warten, wenn wir die Zeit nutzen können?«
    Das, dachte Aurora, ist ein Argument. Außerdem war alles besser, als hier im Lesesaal zu warten und sich in Untätigkeit und unruhigen Gedanken zu üben. Es würde an dem, was passiert war, nichts ändern.
    »Wo finden wir die sieben Schwestern«, fragte das Mädchen, »und wer sind sie?«
    Tristan Marlowe war bereits auf dem Weg zur Garderobe, wo er sich Mantel, Hut und Gehstock schnappte. »Die sieben Schwestern«, erklärte er dem hinter ihm herlaufenden Mädchen, »leben in der stillgelegten U-Bahn-Station von Seven Sisters.« Die flinken Finger knöpften den Mantel bis zum Hals zu. »Was genau sie sind? Hm, schwierig zu sagen. Man könnte sie als eine Art Orakel beschreiben, das kommt der Sache recht nah. Davon abgesehen sind sie manchmal Tauben.«
    Aurora blinzelte.
    Hatte sie richtig gehört?
    »Tauben?«
    Er konnte sich ein leicht abfälliges Grinsen nicht verkneifen. »Sie müssen das nicht verstehen.«
    Aurora schlüpfte in ihre Jacke, band sich den Schal um und folgte dem jungen Bibliothekar, der schon auf dem Weg nach draußen war. Das Mädchen fragte sich, ob Marlowe überhaupt auf sie gewartet hätte, wäre sie ihm nicht schnellen Fußes gefolgt. Aber da sie keine Antwort auf diese Frage zu erwarten hatte, gab sie sich einfach nur Mühe, seinen hastigen Schritten zu folgen.
    »Was tut ein Orakel in London?«, fragte sie, als sie das Britische Museum verlassen hatten und durch den Wintertag hinüber zur Tottenham Court Road liefen.
    »Es orakelt«, antwortete Tristan Marlowe.
    »Als hätte ich mir das nicht denken können.«
    Er sah sie von der Seite an. Wirkte wieder einmal so belehrend. »Die sieben Schwestern sind Tauben, die vor langer Zeit einmal ein Sternbild waren.« Tristan Marlowe schwang den altmodischen hölzernen Gehstock mit dem silbernen Knauf. »Sie betreiben ein Restaurant für griechische Spezialitäten in der uralten Metropole und orakeln denen, die einen Preis dafür zu zahlen bereit sind, die Zukunft, die Gegenwart oder auch die Vergangenheit. Was auch immer.«
    »Welchen Preis?«
    »Das«, sagte Marlowe, »weiß man erst, wenn sie einem den Preis nennen.«
    Vor langer Zeit einmal, da waren die Plejaden die überaus hübschen Töchter des Titanen Atlas und der Okeanide Pleione gewesen. In den Wäldern Griechenlands hatten sie gelebt, und als Orion, der Jäger, ihnen lüstern nachstellte, da erhörte der Göttervater Zeus die Hilferufe der entsetzten Mädchen und schenkte ihnen ein Sternbild am Himmel, auf dass sie sicher wären vor den lästigen Nachstellungen des Jägers.
    »Ein Teil von ihnen, sagt man, lebt immer noch dort oben. Sie sind zur Hälfte Sterne, die auf die Welt herabschauen können und mehr sehen, als wir zu träumen wagen. Frauen sind sie dort unten immer und Tauben, sobald sie die uralte Metropole verlassen.«
    »Und Sie glauben, dass sie uns helfen werden?«
    Er zuckte die Achseln. »Eigentlich weiß ich nur das über die Taubenfrauen, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Ihre Abstammung lässt sich bis ins antike Griechenland zurückverfolgen. Sie arbeiten in der Gastronomie. Und sie mögen keine Männer.«
    Aurora horchte auf. »Deswegen nehmen Sie mich mit.«
    Tristan Marlowe machte ein unschuldiges Gesicht. »Sagte ich das nicht?«
    Das Mädchen musste schmunzeln. »Sie fürchten sich davor, ihnen allein gegenüberzutreten?«
    »Nun ja, so würde ich das nicht ausdrücken«, antwortete er, und seine Worte ließen nicht den geringsten Anflug von Humor erkennen. »Sie reden wohl nur höchst ungern mit Männern.«
    »Wegen Orion.«
    Tristan Marlowe nickte. »Sagt man.«
    Aurora nahm es zur Kenntnis.
    Weiter hasteten sie durch den Schnee, der die Stadt mittlerweile immer fester im Griff zu haben schien, und verschwanden in der Tottenham Court Road in der U-Bahn.
    Die Northern Line brachte sie nach Euston hinauf, wo sie den Zug verließen und sich von den drängelnden Menschenmassen durch ein Labyrinth von Gängen schieben ließen.
    »Ich hasse das«, schimpfte Tristan Marlowe und teilte unauffällig Hiebe mit dem Gehstock aus, sodass unvorsichtige, rüpelhafte oder einfach zu langsame Passanten schnelle

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