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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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legte den Kopf so schräg, dass ihr das Haar aus dem Gesicht fiel. Ihr linkes Auge war ein glatter Mondstein, wunderbar hell glänzend im Licht der sanften Beleuchtung.
    »Wir hatten gehofft, dass Sie herkommen.« Tristan Marlowe gesellte sich zu uns. Er war hager und bleich und sah aus, als habe er nächtelang nicht geschlafen. »Virginia Dare und der Kojote hatten Sie in ihrer Gewalt. Die Ratten haben davon berichtet. Dass Sie bereits zum zweiten Mal bei Lady Solitaire aufgetaucht waren.«
    »Die Ratten?«, fragte ich.
    »Die Ratten«, sagte Tristan Marlowe. »Die Frau in Weiß
lässt üblicherweise jeden töten, der ihr Geheimnis lüften will.«
    »Wir wollten nicht ihr Geheimnis lüften«, sagte Scarlet und fragte sich, wohin das alles führen würde.
    »Doch, genau das wollten Sie«, sagte Emily Marlowe. »Nun ja, Sie hätten es jedenfalls getan. Denn Virginia Dares Vergangenheit ist ein Geheimnis. Und Sie sind dabei, es aufzudecken.«
    Sie machte eine Pause.
    Dann fuhr sie fort: »Jedenfalls kam Mina zu uns und berichtete uns von den Dingen, die die Ratten sich erzählten. Dass Sie ein zweites Mal lebendig aus dem Paramount-Theater entkommen seien.«
    Woher, dachte Scarlet, wussten die Ratten darüber Bescheid? Was ging hier vor? Sie fragte sich, ob sie der jungen Frau mit dem Mondsteinauge trauen konnte.
    »Ja, sieht so aus, als lebe ich noch«, murmelte sie. »Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie eigentlich sind.«
    »Nehmen Sie doch Platz«, bot Emily Marlowe uns die grüne Couch mit dem runden Tisch davor an. Dann erklärte sie: »Ich war Wittgensteins Schutzbefohlene. Er hat sich meiner angenommen und mich zur Alchemistin ausgebildet. Ich war ein Waisenkind, und er hat mich zu sich nach Hause geholt, nach Hampstead Manor. In London.«
    Hampstead?
    Scarlet versuchte die Teile des Puzzles zu verbinden.
    War das nicht der Name der Rättin gewesen? Mina Hampstead?
    »Und jetzt?«, hakte Scarlet nach. »Sind Sie eine?«
    Emily Marlowe seufzte. »Ich verkaufe lieber Bücher.«
    »Warum?«
    »Es verschafft einem weniger Aufmerksamkeit. Und wir wollen beide nicht auffallen.«
    Tristan Marlowe nickte, ging zum Fenster, schaute hinaus. Er wirkte nervös und wachsam.
    »Weshalb haben Sie London verlassen?«
    Emily Marlowe schwieg, sah hinaus ins Schneetreiben, und dann erklärte sie mit leiser Stimme: »Wittgenstein ist verschwunden, und selbst ich weiß nicht, wo er steckt. Er hat gewisse Dinge in Erfahrung gebracht, deswegen sind sie alle hinter ihm her.«
    »Alle?«
    »Die Schlafwandler. Lord Somnia. Die Dreamings.« Sie schaute Scarlet ernst an. »Sie!«
    »Wenn alles, was Sie beide eben gesagt haben, stimmt«, sagte Scarlet, »dann bin ich seine Tochter. Ich darf ihn suchen.« Sie sprach leise, als müsse sie sich über ihre eigenen Gedanken erst klar werden, bevor sie sie in Worte fassen konnte, und dann erzählte sie von Rima und der Schlafkrankheit und dem Auftrag, den sie erhalten hatte, ohne auch nur den Schimmer einer Ahnung zu haben, worum es hier genau ging.
    »Sie werden sterben, wenn Sie ihm begegnen.« Emily Marlowe sah traurig aus. Eine schwere Melancholie schien ihr ständiger Begleiter zu sein. »Und er wird ebenfalls sterben. So will es der Fluch. Der Preis des Shah-Saz. Wittgenstein hat mir die Geschichte damals in Prag erzählt.«
    Scarlet war verunsichert. Diese fremde junge Frau wusste so viel von ihr, dass es ihr Angst machte. Sie selbst hatte diese Dinge erst vor wenigen Jahren erfahren, und jetzt stand dieses englische Mädchen hier und sprach von dem Fluch
des Shah-Saz, wusste, was ihrer Mutter in London widerfahren war, und kannte ihren Vater.
    Meine Güte, ihr Vater.
    Zum ersten Mal fragte Scarlet sich, ob sie ihn überhaupt sehen wollte. Bisher hatte sie nur an ihre Mutter gedacht, weil die Gefühle, die sie in sich trug, doch ausschließlich Rima galten. Sie wollte, dass Rima aufwachte. Sie wollte, dass alles gut würde. Sie wollte, dass alles wieder so sein würde, wie es früher gewesen war. Aber ob sie Mortimer Wittgenstein gegenüberstehen wollte … das wusste sie nicht.
    Sie fürchtete sich davor.
    »Wir wollten jedenfalls mit Ihnen reden«, schaltete sich Tristan Marlowe ein, »weil Sie nach ihm suchen. Wir wussten zwar nicht, wer Sie sind, aber das war auch nicht wichtig. Jemand war in die Stadt gekommen, und dieser Jemand stellte unbequeme Fragen. Fragen, die keiner mochte. Am allerwenigsten Virginia Dare. Das ist das Problem, wie Sie gleich schnell erkennen

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