Die Vagabundin
war ein schönes Gefühl – dann war sie hellwach! Sie zog ihre Hand weg, drehte sich auf die andere Seite und gab unter leisem Schnarchen vor zu schlafen.
In Wirklichkeit lag sie fast die ganze Nacht hindurch wach und dachte darüber nach, wie sie jetzt wohl noch unbeschadetden Hals aus der Schlinge ziehen konnte. Oder zumindest der Sache ein Ende bereiten, ohne die Freundin zu verletzen und zu verlieren. Doch die einzige Lösung, auf die sie immer wieder stieß, schien ihr zu sein: stillhalten und abwarten.
Aber ihre Verlobte machte ihr einen Strich durch die Art Rechnung. Als sie sich am nächsten Morgen verabschiedete, drehte sich Kathrin im Türrahmen noch einmal um. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Trotziges, was Eva noch nie an ihr gesehen hatte.
«Warum», fragte Kathrin, «ziehst du niemals zum Schlafen dein Hemd aus, nicht mal jetzt, wo es nachts so warm ist? Ist irgendetwas mit deiner Männlichkeit? Gibt’s was, wofür du dich schämst? Oder» – ihre Stimme wurde leiser – «oder bereust du dein Eheversprechen schon?»
«Nein, nein!»
Eva schüttelte den Kopf, so heftig, als wolle sie damit diese plumpe Lüge aus dem Kopf haben. Denn nichts bereute sie mehr, als dieser besten aller Freundinnen etwas gelobt zu haben, was sie niemals würde einlösen können. Aus reinem Eigennutz, nur auf die eigenen Vorteile bedacht, hatte sie Kathrin betrogen und stolperte jetzt von einer Lüge in die nächste. Was war sie nur für ein schlechter Mensch!
«Dann hast du mich also noch immer lieb?»
«Aber ja, Kathrin! Es ist nur – es kam doch alles recht schnell, weißt du. Gib mir einfach ein bisserl Zeit.» Eva spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. «Bitte glaub mir eins: Ganz gleich, was geschieht – ich hab dich sehr lieb!»
Unter der Anspannung dieser Lebenslüge ging es Eva zunehmend schlechter. Immer häufiger krampfte sich ihr Magen urplötzlich zusammen, Kopfschmerzen quälten sie, und bei der Arbeit wurde sie immer fahriger. Einmal verschnitt sie ein kostbaresStück Seide, was ihr prompt einen Abzug vom Lohn einbrachte. Die gemeinsame Zeit mit Kathrin vermochte sie kein Quäntchen mehr zu genießen, schließlich begann sie nach Ausflüchten zu suchen, warum sie sich nicht mehr so häufig treffen konnten.
Es war Ende Juni, wenige Tage nach Johanni, als das Unwetter vollends über sie hereinbrach. An diesem drückend heißen Tag, an dem einem jede Bewegung zu viel wurde, brachte ihr ein Knabe ein zerknittertes, mit Dreck- und Fettflecken übersätes Schreiben. Eva stieß mit ihm im Hauseingang zusammen, als sie eben auf dem Weg ins Spital war. Seit vorgestern lag Kathrin dort nun selbst als Kranke danieder. Sie hatte einen heftigen Sommerkatarrh, und Eva wollte nach ihr sehen. Dafür hatte sie eigens früher Feierabend gemacht.
«Von wem ist das?», fragte sie den rotznäsigen, barfüßigen Jungen und drückte ihm einen Pfennig in die Hand.
«Meister Fuchs hat es aus Straubing mitgebracht.»
Eva unterdrückte einen Jubelschrei: Dann musste das ein Brief von Niklas sein! Das Zweite, was sie in diesem Moment dachte, war: Ich hab dem Schiffsmann Unrecht getan, er ist doch eine ehrliche Haut. Und das Dritte: Woher weiß Niklas, dass ich in Regensburg als Adam Auer lebe? Davon hatte sie ihm nämlich wohlweislich kein Wort verraten.
An Ort und Stelle, mitten im Hauseingang, riss sie den mit Wachs versiegelten Umschlag auf.
Straubing, auf Sankt Vitus, den 15. Tag Junii anno etc. 1565
Meine geliebte Schwester!
Da staunst du, nicht wahr? Vor sechs Wochen habe ich durch Meister Fuchs deine Nachricht erhalten, und in den nächsten Tagen wird er auf dem Rückweg von Linz hier anlegen und meine Antwort an dich mitnehmen. Dieser Schiffsmeister fährt übrigens
auch in unserem Auftrag Waren nach Linz. Ich hab ihm gesagt, du seist ein guter Freund von mir.
Es war so einfach herauszufinden, wo du steckst: Ich musste nur bei Meister Fuchs nachfragen, wer ihm das Schreiben übergeben habe – und schon wusste ich, dass du selber das warst! Ein sehr junger, dunkelhaariger, recht kleiner Schneidergeselle namens Adam Auer! Adam wie unser großer Bruder – du bist und bleibst verrückt, geliebte Schwester!
Jetzt also lebst du in Regensburg! Wie ich dich kenne, hast du dein gutes Auskommen, und wie ich dich ebenfalls kenne, wirst du nicht an diesem einen Ort bleiben. Aber ich flehe dich an: Bleibe wenigstens bis zum Erntemonat! Dann nämlich komme ich mit dem Oheim nach Regensburg,
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