Die Vampire
Haus Dracula. In einem Zeitungsartikel hätte sie sich als wahrscheinliche Täterin eingestuft.
Aber würde sie sich dann nicht daran erinnern?
Sie hatte keinen Zugang zu Zeitungen oder Radionachrichten, aber sie konnte sich vorstellen, wie die Welt reagierte. Diejenigen, die sie für schuldig hielten, würden säuberlich in zwei Lager geteilt sein: auf der einen Seite Draculas Anhänger, die nach ihrer öffentlichen Pfählung im Fernsehen riefen, auf der anderen seine Feinde, die sie als Heldin und Heilige feierten. Geneviève hätte an ihrer Stelle sein müssen. Sie war eher dazu in der Lage, mit so etwas umzugehen.
Was hielt Silvestri davon ab, sie zu beschuldigen? Das Hämmern in ihrem Kopf löschte ihre Intuition nicht völlig aus. Der Kommissar glaubte nicht, dass sie es getan hatte. Marcello hatte ihr erzählt, dass der Polizist ein Fachmann für diese sehr italienischen Mordfälle war, in denen nie etwas so war, wie es schien, und seltsam zusammengewürfelte Gruppen von Verdächtigen mit verdrehten Motiven komplizierte, merkwürdige und unergründliche Gräueltaten verübten. Normalerweise schlug er sich mit schwarz behandschuhten, maskierten Bösewichtern herum, die mit Rasiermessern oder Vorhangschnüren zu Mannequins oder Nachtclubhostessen gingen, um als Sexualmörder zu erscheinen, obwohl es in Wirklichkeit um heiß umkämpfte Erbschaften oder Ansprüche aus Lebensversicherungen mit besonderer Unfalltodklausel ging oder der Ruf noch unangenehmerer Verwandtschaft gewahrt bleiben sollte. Wenn Silvestri am Tatort auf den schlimmsten Feind des Opfers stieß, dieser mit dessen Blut besudelt war und seine Geldbörse in der Gesäßtasche hatte, konnte das in seinen Augen nur eine falsche Fährte sein.
Sie versuchte sich zu erinnern.
Draculas Gruft blieb ihr verschlossen, aber sie ertappte sich dabei, mehr und mehr die Vergangenheit zu durchstreifen. Irgendwo dort war alles verborgen.
1943 hatte sie im Gefolge der Streitkräfte von General Patton zu Fuß einen Großteil von Sizilien durchquert. »Operation Husky« stieß auf wenig Widerstand vonseiten der italienischen Truppen auf der Insel - König Victor Emmanuel hatte gerade Mussolini entlassen, und Pietro Badoglio verhandelte über Italiens Wechsel der Seite. Aber vierzigtausend deutsche Soldaten lieferten den Alliierten einen verzweifelten Kampf.
Die Presse zuckelte mit der zweiten oder dritten Welle mit. Weiter nach vorn zu den Kampfhandlungen wie Ernie Pyle ließ man Kate nicht. Bis sie irgendwo ankam, sollte die Gegend befriedet sein, damit sich das Ganze besser als die Moral hebender Sieg darstellen ließ. Man ermunterte sie, Storys über sizilianischamerikanische Soldaten zu schreiben, die Verwandte in der alten Heimat besuchten und auf malerischen Dorffesten als Befreier begrüßt wurden.
Was sie tatsächlich zu sehen bekam, war das bürokratische Chaos eines Machtwechsels. Das faschistische Regime war gescheitert, nun herrschte erst eine provisorische Militärregierung und dann derjenige, der die Lage am besten auszunutzen verstand. Die meisten Partisanen, die an der Seite der Alliierten gekämpft hatten, stellten sich als soldati der Mafia heraus, die sich Gebiete zurückholte, die il Duce ihr entrissen hatte. Um den Feldzug rasch und erfolgreich durchzuführen, waren die Alliierten bereit gewesen, sich solcher Banditen wie Salvatore Giuliano und Charles »Lucky« Luciano zu bedienen. Kate sah sizilianische Dörfler, die ohne zu lächeln und mit vorgehaltener Waffe Fähnchen schwenkten, um den »zurückgekehrten Sohn« Luciano zu begrüßen, und
als ihr aufging, dass sie nicht Zeugin einer Befreiung wurde, sondern eines Austausches von Unterdrückern, kamen ihr die Tränen.
»Ihr habt sie wieder hergebracht«, fauchte eine alte Frau.
Kate sollte diese Bäuerin nie wieder vergessen - verhärmtes Gesicht, krummer Rücken, tote Söhne und Enkelsöhne ringsum. Für sie waren die (erst seit kurzem feindlichen) Deutschen fremde Wesen, so unvorhersehbar und unerbittlich wie das Wetter. Die Mafia hingegen, die sie nun willkommen heißen sollte, kannte sie schon ihr ganzes Leben. Diese Leute konnte sie hassen für ihre Arroganz und ihren Ehrenkodex, für ihre jähen Gewaltausbrüche, ihre Gier nach immer noch mehr Abgaben.
Ein amerikanischer Offizier gestand Kate, dass er diese Menschen nicht verstehen konnte. »Sie sind frei. Was wollen sie denn noch, Blut?« Dann merkte er, was er gesagt hatte, und versuchte sich zu entschuldigen. Zwei
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