Die Verbannung
Tal sah jetzt ganz anders aus, es gab längst nicht so viele Häuser, und ohne die befestigten Straßen, die Autos und die Geschäfte wirkte alles vollkommen fremd. Die Schafweiden waren verschwunden, das Land in Haferfelder unterteilt, die durch niedrige Steinmäuerchen voneinander abgegrenzt wurden. Aber sie erkannte die schroffen Berge im Süden und die bewaldeten Hügel im Norden wieder. Weiter unten im Tal kam die Burg in Sicht, und der dahinter liegende See schimmerte im Sonnenlicht.
Cody versuchte, der Frau ihre Geschichte zu erzählen, doch diese schüttelte nur den Kopf und schnatterte etwas auf Gälisch. Dabei lächelte sie, und Cody begriff, dass sie kein Englisch sprach und nur Dylans Namen verstanden hatte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass die Frau sie auch wirklich zu >Dylan Doo< führen würde.
Kurz vor der Burg wandte die Frau sich nach links und steuerte auf einen Pfad zu, der zum Wald in der Nähe des Sees führte. Doch in diesem Moment kamen ein paar andere Frauen durch das Burgtor. Codys Begleiterin rief ihnen etwas zu und erhielt eine aufgeregte, tränenerstickte Antwort, woraufhin ein Ausdruck nackten Entsetzens auf ihr Gesicht trat. Cody vermutete, dass sich die Nachricht von Caits Tod gerade wie ein Lauffeuer im Tal verbreitete. Ihr Herz wurde schwer. Anscheinend herrschte hier jetzt helle Aufregung; die Frauen weinten, und die verbissenen Mienen der Männer zeugten von ohnmächtiger Wut und tiefem Schmerz. Ihr war klar, dass sie, obwohl sie Dylan gewarnt hatte, die Katastrophe nicht hatte verhindern können, und jetzt fürchtete sie, es könnte noch etwas Schlimmeres geschehen sein. War auch Ciaran etwas zugestoßen? Oder Dylan selbst?
Ihre Begleiterin zog sie über die Zugbrücke. Cody starrte die schwere Brustwehr und die Türme mit offenem Mund an. Alles wirkte so unglaublich alt, viel älter als das älteste Gebäude, das sie daheim in Tennessee je gesehen hatte. Im Burghof brüllte ein Hüne mit langem dunkelblondem Bart ein paar Männern etwas zu. Alle schienen vor Zorn außer sich zu sein. Durch die großen Türen des Gebäudes rechts von Cody gingen ständig Leute ein und aus. Codys Führerin setzte ihren Sohn ab, damit er mit den anderen Kindern im Hof spielen konnte, dann nahm sie Cody das Baby ab und sagte etwas zu einer anderen Frau, die gerade an ihr vorbeiging. Diese blieb stehen und musterte Cody forschend.
»Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von Dylan Dubh?«, fragte sie. Sie war genauso dünn wie Codys Begleiterin, aber größer und etwas älter.
»Mein Name ist Cody Marshall. Ich bin ...«, die Geschichte, erinnere dich an die Geschichte, »... ich suche meinen Vetter Dylan Matheson. Er erwartet mich. Mein ...« Sie drehte sich zum Burgtor um und wünschte, Dylan wäre hier. »Mein Begleiter ... er ist tot. Starb bei einem schweren Sturz.« Wieder kamen ihr die Tränen. Wo war Dylan? Warum hatte er nach ihrer Warnung den Mord nicht verhindert? Nackte Furcht schnürte ihr die Kehle zu. »Ich muss meinen Vetter finden. Bitte sagen Sie mir, wo er ist.«
»Kommt mit.« Die hoch gewachsene Frau führte sie durch die große Tür, vorbei an einer Wand, an der abge-nutzte Schwerter, Dolche und ein paar Flinten hingen, und dann in einen riesigen Raum. Von den Bratspießen, die über dem Feuer in dem großen Kamin am anderen Ende des Raumes gedreht wurden, stieg ein würziger Duft auf. Überall standen Tische, Bänke und einige Stühle. Zwei kleine Kinder saßen weinend auf einer Bank vor dem dem Feuer am nächsten stehenden Tisch, ein größerer Junge hockte still daneben. Auch er wirkte, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen, bemühte sich aber, sich wie ein Mann zu benehmen.
»Ihr seid zu einer denkbar ungünstigen Zeit gekommen, Miss Marshall«, erklärte die hoch gewachsene Frau. »Wir haben gerade erfahren, dass eine unserer Verwandten ermordet wurde. Die Frau Eures Vetters. Es ist furchtbar ... einfach furchtbar ...« Tränen rannen ihr über die Wangen, und ihre geröteten Augen verrieten Cody, dass sie schon eine ganze Weile geweint haben musste. Sie ging zu den Kindern hinüber, nahm das ungefähr ein Jahr alte Mädchen auf den Arm und wiegte sie sacht.
Doch dann schien sie sich plötzlich auf ihre Manieren zu besinnen und drehte sich wieder zu Cody um. »Ich muss mich bei Euch entschuldigen. Mein Name ist Sarah Matheson. Ihr seid sicher hungrig.«
Obwohl Dylan ihr eingeschärft hatte, sie müsse so tun, als sei sie halb
Weitere Kostenlose Bücher