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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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gebreitet.
    Neben mir saß eine weinende Elizabeth.
    »Sind Sie ihre Mutter?«, fragte eine Stimme. Ich öffnete ein Auge und sah einen jungen Mann in marineblauer Uniform am Kopfende meines Bettes stehen. Blitzende Lichter leuchteten zum Fenster herein und strichen über sein nassgeschwitztes Gesicht.
    »Ja«, erwiderte Elizabeth. »Ich meine, nein. Noch nicht.«
    »Also ist sie ein Mündel des Gerichts?«, hakte er nach.
    Elizabeth nickte.
    »Dann müssen Sie das sofort melden. Sonst werde ich es tun.« Der Mann verzog entschuldigend das Gesicht, worauf Elizabeth noch heftiger weinte. Er reichte ihr ein schweres schwarzes Telefon, das mit einem spiralförmigen Kabel wie dem in Elizabeths Küche an der Wand des Krankenwagens befestigt war. Ich schloss die Augen wieder. Eine schiere Ewigkeit fuhren wir durch die Nacht. Elizabeth weinte immer weiter.
    Als der Krankenwagen anhielt, steckten Hände mir das Nachthemd unter den Achseln fest. Die Türen öffneten sich. Kalte Luft strömte herein, und als ich die Augen aufschlug, stellte ich fest, dass Meredith uns erwartete. Sie war im Pyjama und hatte einen Trenchcoat über die Schultern geworfen.
    Ich wurde an ihr vorbeigeschoben, worauf sie sich vorbeugte und die Hand ausstreckte, um Elizabeth von mir wegzuziehen. »Ab jetzt übernehme ich«, sagte sie.
    »Fassen Sie mich nicht an«, entgegnete Elizabeth. »Wagen Sie es nicht, mich anzufassen.«
    »Warten Sie in der Vorhalle.«
    »Ich lasse sie nicht allein«, protestierte Elizabeth.
    »Wenn Sie nicht in der Vorhalle warten, sorge ich dafür, dass Sie vom Sicherheitsdienst entfernt werden«, erwiderte Meredith.
    Über meine zurückweichenden Zehen hinweg beobachtete ich, wie Meredith eine entsetzte Elizabeth in der Vorhalle stehen ließ. Sie folgte mir in ein Zimmer.
    Eine Krankenschwester untersuchte mich und listete meine Verletzungen auf. Ich hatte Verbrennungen auf der Kopfhaut und einen Striemen rings um den Bauch, wo das Gummibündchen meiner Unterhose geschmolzen war. Der ausgekugelte Arm hing mir schlaff an der Seite herunter, und meine Brust und mein Rücken wiesen dort, wo Elizabeth mich getreten hatte, blaue Flecke auf. Meredith hielt die Untersuchungsergebnisse der Krankenschwester in ihrem Notizbuch fest.
    Elizabeth hatte mir weh getan. Zwar nicht so, wie Meredith annahm, aber immerhin. Die Spuren waren nicht von der Hand zu weisen. Man würde sie fotografieren und in meine Akte aufnehmen. Niemand würde Elizabeths Geschichte glauben, nämlich dass sie versucht hatte zu verhindern, dass ich mich kopfüber in eine Feuersbrunst stürzte. Obwohl es die Wahrheit war.
    Und plötzlich wurde mir klar, dass die Wunden an meinem Körper mir einen ausgezeichneten Fluchtweg eröffneten, um mich vor Elizabeths schmerzerfülltem Blick zu retten. Ein Weg fort von den Schuldgefühlen, der Reue und dem verkohlten Weinberg. Ich konnte mich dem Leid, das ich Elizabeth zugefügt hatte, nicht stellen. Dazu würde ich niemals in der Lage sein. Es war nicht nur das Feuer, sondern ein Jahr voller Vergehen, manche bedeutungslos, andere unverzeihlich. Mir eine Mutter sein zu wollen hatte Elizabeth verändert. In dem Jahr seit meinem Einzug hatte sie sich in eine neue Frau verwandelt, in eine weichere, die Gefühle zulassen konnte. Wenn ich bei ihr blieb, würde sie sich nur immer weiter quälen. Das hatte sie nicht verdient. Sie hatte nichts dergleichen verdient.
    Die Krankenschwester trat auf den Flur hinaus. Meredith schloss die Tür des kleinen Zimmers. Wir waren allein.
    »Hat sie dich geschlagen?«, wollte Meredith wissen.
    Ich biss mir so fest auf die Unterlippe, dass sie aufplatzte, und schluckte Blut und Speichel. Meredith beobachtete mich.
    Ich holte tief Luft. Mein Blick wanderte über die Löcher in der schalldämpfenden Deckenverkleidung, dann senkten sich meine Augen, um die Frage auf die einzige Art und Weise zu beantworten, die mir möglich war und die Meredith von mir erwartete.
    »Ja«, sagte ich.
    Meredith nickte und verließ den Raum.
    Ein Wort nur und alles war vorbei. Falls Elizabeth versuchen sollte, mich zu sehen, würde ich mich weigern. Da Meredith und die Schwestern sie für gefährlich hielten, würden sie mich vor ihr beschützen.
    In jener Nacht träumte ich zum ersten Mal von dem Feuer. Elizabeth kauerte schluchzend über mir. Das Geräusch klang kaum noch menschlich. Als ich mich ihr nähern wollte, klebten meine Zehen fest, als sei mein Fleisch mit dem Boden verschmolzen. Sie fing an, etwas zu rufen.

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