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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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ging, fing sie an, mich mit meinem Vater zu verwechseln. Sie bekam Wutanfälle und warf mich aus dem Haus. Wenn ihr dann klarwurde, was sie getan hatte, hat sie sich mit Blumen entschuldigt.«
    »Wohnst du deshalb hier?«, meinte ich.
    Grant nickte. »Außerdem war ich schon immer gern allein. Das versteht niemand.«
    Ich verstand.
    Grant aß seinen Reis auf und nahm sich einen Nachschlag. Dann griff er nach meiner Schale und füllte sie ebenfalls nach. Schweigend verzehrten wir den Rest unserer Mahlzeit.
    Er stand auf, spülte seine Schale und legte sie kopfüber auf ein Trockengestell aus Metall. Ich spülte meine und tat das Gleiche. »Wollen wir fahren?«, fragte Grant.
    »Der Film?«, erinnerte ich ihn, holte die Kamera, die an einem Haken hing, und reichte sie ihm. »Ich weiß nicht, wie man ihn rauskriegt.«
    Grant spulte den Film zurück und nahm ihn aus der Kamera. Ich steckte ihn ein.
    »Danke.«
    Wir stiegen in Grants Laster und rollten die Straße entlang. Als wir schon fast wieder in der Stadt waren, fiel mir Annemaries Bitte ein. Ich schnappte nach Luft.
    »Was ist?«, wollte Grant wissen.
    »Die Jonquille. Ich habe sie vergessen.«
    »Ich habe die Zwiebeln gesetzt, während du im Rosengarten warst. Sie sind in einem Pappkarton im Gewächshaus. Sie brauchen Dunkelheit, bis sich Blätter bilden. Du kannst sie dir nächsten Samstag anschauen.«
    Nächsten Samstag. Als ob wir eine feste Verabredung hätten. Ich beobachtete Grant beim Fahren. Sein Profil war hart und ernst. Ich würde nächsten Samstag nach den Blumen sehen. Das war eine einfache Aussage, allerdings eine, die alles von Grund auf änderte, so wie die Entdeckung der gelben Rose.
    Eifersucht, Untreue. Einsamkeit, Freundschaft.

6.
    A ls ich zum Abendessen hereinkam, war es schon dunkel. Das Haus war hell erleuchtet, und Elizabeth saß, eingerahmt von der offenen Tür, am Küchentisch. Sie hatte Hühnersuppe gekocht – der Duft war bis zwischen die Weinreben zu mir hinübergeweht und hatte mich körperlich angezogen –, und sie beugte sich über ihre Schale, als wolle sie ihr Spiegelbild in der Brühe betrachten.
    »Warum hast du keine Freunde?«, fragte ich.
    Die Worte waren mir unüberlegt herausgerutscht. Eine Woche lang hatte ich beobachtet, wie Elizabeth bedrückt und niedergeschlagen über die Weinlese wachte. Und als ich sie so allein und offenbar einsam am Küchentisch sah, platzte die Frage geradezu aus mir heraus.
    Elizabeth blickte zu mir herüber. Schweigend stand sie auf und kippte den Inhalt ihrer Schale zurück in den Suppentopf. Dann zündete sie mit einem Streichholz die blaue kreisförmige Gasflamme darunter an.
    Sie drehte sich zu mir um. »Nun, warum hast du keine?«
    »Weil ich keine will«, erwiderte ich. Außer Perla, die inzwischen ein gutes Stück die Straße hinunter auf mich wartete, damit man sie nicht mit mir sah, waren meine Mitschüler die einzigen Kinder, die ich kannte. Sie nannten mich
Waisenmädchen
. Inzwischen war ich sicher, dass sich nicht einmal die Lehrerin meinen Namen gemerkt hatte.
    »Warum nicht?«, hakte Elizabeth nach.
    »Ich weiß nicht«, entgegnete ich in abwehrendem Ton. Allerdings wusste ich es sehr genau.
    Wegen meines Angriffs auf den Busfahrer war ich fünf Tage lang vom Unterricht ausgeschlossen worden und fühlte mich zum ersten Mal im Leben nicht elend. Zu Hause bei Elizabeth brauchte ich sonst niemanden mehr. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt, während sie die Lese beaufsichtigte, die Arbeiter zu den reifen Trauben schickte und sie von denen fernhielt, die noch einen oder zwei Tage Sonne brauchten. Sie steckte sich selbst und dann auch mir Trauben in den Mund und ratterte dann Zahlen herunter, die sich auf den Reifegrad bezogen: 74/6, 73/7, 75/6.
Das,
sagte sie, wenn wir auf ein reifes Büschel stießen,
musst du dir merken. Genau diesen Geschmack – Zuckergehalt bei
75
, Tannin bei
7
. Das ist eine optimal reife Weintraube, was weder eine Maschine noch ein Laie erkennt
. Am Ende der Woche hatte ich Trauben von fast jeder Rebe gekaut und wieder ausgespuckt und konnte die Zahlen aufsagen, fast
     noch ehe die Traube meinen Mund erreichte. Es war, als sei meine Zunge in der Lage, sie abzulesen wie die Wertangabe auf einer
     Briefmarke.
    Die Suppe begann zu brodeln. Elizabeth rührte sie mit einem Holzlöffel um. »Zieh deine Schuhe aus«, wies sie mich an. »Und wasch dir die Hände. Die Suppe ist heiß.«
    Elizabeth stellte zwei Suppenschalen auf den Tisch und legte Brotlaibe,

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