Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
einheimische Bevölkerung wussten – dass einige Stämme Kannibalen waren, davon hatte selbst der dümmste Farmjunge gehört.
Martin sprach zumindest Pidgin English, eine Sprache, die viele Stämme beherrschten, und konnte sich fast überall auf Papua verständlich machen. Ein Umstand, der ihm jetzt zu Hilfe kam. Zwei seiner Männer waren zu schwer verletzt, um ohne Hilfe den Track zu bewältigen. Die Fuzzy Wuzzies versprachen, die beiden Verwundeten zurück ins Basiscamp am Fuße des Berges zu bringen.
Martin redete mit dem Soldaten, der den Rücktransport der Kranken überwachen sollte, und wandte sich dann fragend an die Einheimischen, um herauszufinden, auf was sich seine Truppe einzustellen hatte. Sein Gesicht verfinsterte sich während des Gesprächs. Auf sie wartete offensichtlich eine starke japanische Einheit. Die Digger, die vor seiner Truppe auf die Japaner getroffen waren, galten innerhalb der Army als unerfahren. Martin unterdrückte aufwallende Wut. Wieso hatte man diese Kinder als Vorhut geschickt? Martin schluckte und schaute sich unter seinen eigenen Männern um. Kaum einer darunter, der älter als zweiundzwanzig war.
Plötzlich fuhr Martin herum. Er hatte ein fremdes Wort gehört, dass ihm bekannt vorkam. Die Tolai benutzten es, der Stamm, der in der Nähe von Kokopo lebte. Martin ging auf den Mann zu und begrüßte ihn. Martins Gestammel in der Stammessprache entlockten dem kleinen drahtigen Kerl ein breites Grinsen. Sein Haar machte dem Spitznamen alle Ehre. Es stand wirr und starr nach oben ab. Martin ließ den Engel unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen wissen, dass er ebenfalls aus Kokopo stamme. Daraufhin ergoss sich ein schier endloser Schwall an Worten über ihn, bis er lächelnd den Kopf schüttelte und als weiteres Zeichen seiner Hilflosigkeit die Hände in den Himmel reckte. Immerhin hatte er den Namen des Tolai verstanden: Paikou. Der hörte nicht auf, zu grinsen und zu nicken, während er in einem fort auf Martin einredete. Hinter ihnen amüsierten sich die Digger über die angestrengte Unterhaltung.
»Kennst du Miti?«, unterbrach Martin den Eingeborenen nach einer Weile auf Pidgin. Paikou nickte. Gab es eigentlich irgendjemanden in Papua, der Miti nicht kannte?, fragte sich Martin und schöpfte gleichzeitig Hoffnung. Er nahm nochmals allen Mut zusammen, um die Frage zu stellen, vor deren Beantwortung er sich am meisten fürchtete:
»Hast du meine Mutter gesehen? Johanna Hunter. Sie ist Mitis beste Freundin.« Paikou zog die buschigen Brauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Jo?«
Martin beschrieb seine Mutter, und Paikou antwortete mit einem Nicken. Erst zögerte Martin, doch dann lächelte er. Der Kosename gefiel ihm.
»Ja. Jo.«
Sobald er Port Moresby erreichte, wollte Paikou das nächste Boot zurück nach Rabaul nehmen, schon in zwei, spätestens drei Tagen. Martin begann, hektisch in seinen Hosentaschen nach einem Stück Papier zu suchen. Als er nichts fand, riss er einen Fetzen von seiner Zigarettenpackung und kritzelte darauf eine Notiz. Er drückte Paikou das Stück Papier in die Hand.
»Wirst du ihr das geben? Kannst du dafür sorgen, dass ich eine Antwort erhalte? Du weißt, wo du mich findest.« Er machte eine vage Handbewegung, die den gesamten Dschungel um ihn herum einschloss. »Irgendwo hier.«
Paikou kicherte. Martin drückte die Hände des Einheimischen und dankte ihm überschwenglich.
Johanna schaute von der Anhöhe hinab auf Kokopo. Von hier oben sah das Städtchen aus wie immer. Kokopo – das war so viele Jahre ihre Heimat gewesen, doch das alles war nun vorbei. Die Japaner hatten einen Teil des Ortes mit Stacheldraht umzäunt und zu einem Gefangenenlager gemacht. Sie wischte sich mit beiden Händen die heißen Tränen aus dem Gesicht und setzte sich ins Gras unter dem alten Feigenbaum, dessen Luftwurzeln in bizarren Windungen von den Ästen herab in Richtung Boden wuchsen und so etwas wie einen Raum schufen, in dem Johanna sich geborgen fühlte. Die Kathedrale, so nannte sie diesen geheimen Ort. Der einzige Platz, der ihr noch zum Träumen geblieben war.
Sie lehnte den Kopf an den mächtigen Stamm, schloss die Augen und dachte nach. So vieles war passiert. Sie war nun dreiundsechzig, Miti schon neunundsiebzig. Wenn alles gutging, hätten sie im kommenden Jahr einen großen Geburtstag zu feiern.
Es war jetzt dreizehn Jahre her, seit sie aus Australien nach Kokopo zurückgekehrt war. Als wäre sie nie fort gewesen, nahmen die
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