Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
dahin wollte sie sich darüber im Klaren sein, wohin ihre Recherchen sie als Nächstes führen würden.
Doch zunächst fasste sie im Geist zusammen, worauf sie gerade gestoßen war. Sie hatte ihre Suche in der kleinen Bibliothek bewusst breit gefächert. Alles, was sich ungefähr um das Datum des Massakers herum bewegte, war ihr recht gewesen. Über Phebe, Johanna oder Emma hatte sie zu ihrer Enttäuschung nichts Hilfreiches gefunden, wohl aber einen Ordner, der sich mit Waisenkindern beschäftigte. Dabei handelte es sich um einheimische Kinder, die in der Fürsorge der St.-Paul-Mission gewesen waren und die, nachdem die Mission von den Baining ausgelöscht worden war, ein neues Zuhause benötigten. In zahlreichen Briefwechseln zwischen Vunapope und mehreren Waisenhäusern wurde besprochen, wo jedes einzelne dieser Kinder untergebracht werden sollte. Das schien keine einfache Aufgabe gewesen zu sein, die kirchlichen Waisenhäuser waren zu jener Zeit an die Grenzen ihrer Kapazitäten gestoßen. Offenbar, weil sich niemand anders finden ließ, hatte sich Phebe als Leiterin des örtlichen Waisenhauses nach einigem Hin und Her bereit erklärt, vier weitere Kinder in Vunapope aufzunehmen, eines davon in ihrem eigenen Haus.
Bezüglich der Kinder, die vom Massaker betroffen waren, gab es in der Bibliothek einen weiteren Ordner, auf dessen Reiter »Doktor« stand. Der Ordner war dünn. Katja fand nicht mehr als ein paar Seiten, auf denen ein Arzt namens Partik in mehreren Fällen eine Überweisung an einen sogenannten specialist doctor empfahl. Seine Begründung: Die Kinder hätten während des Massakers derart Schreckliches erlebt, dass die damit verbundenen Störungen einer besonderen Behandlung bedurften.
Katja stutzte für einen Augenblick und wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Notizbuch. Die Bücherei verfügte über keinen Kopierer, und so hatte sie sich die Ergebnisse ihrer Recherchen in Stichpunkten notiert. Sie fand in ihrem Büchlein den Vermerk, dass einige Kinder eventuell außerhalb des Landes behandelt worden seien. Dahinter setzte sie nun ein großes Fragezeichen. Sie stützte den Ellbogen auf die Theke und schmiegte ihre Wange in die Hand. Sie überlegte. In Papua hatte es Anfang des letzten Jahrhunderts mit Sicherheit keine ausgebildeten Nervenärzte gegeben, auf die dieser Dr. Partik mit seinem Vermerk abgezielt haben konnte. Die neuen Spezialisten aus Österreich und der Schweiz machten damals weltweit mit ihren modernen Behandlungsmethoden von sich reden. Die Kinder nach Europa zu verschicken musste eine kostspielige Angelegenheit gewesen sein. Doch andererseits: Geld war auf der Gazelle-Halbinsel vorhanden, im Überfluss sogar; man musste nur die Honoratioren oder Emma für die Kinderverschickung gewinnen. Katja nippte an ihrem Mangoshake, den sie sich nach dem Kaffee bestellt hatte, und verzog vor Kälte das Gesicht.
»Brainfreeze?«, fragte die Bedienung hinter der Theke und lachte auf, als Katja zustimmend nickte. Langsam ließ der Kälteschmerz nach; sie kritzelte wieder etwas in ihr Notizbuch und stocherte gleichzeitig in ihrem Reis, aß am Ende nur ein paar Gabeln voll und schob den Plastikteller zur Seite. Sie blätterte eine Seite vor, zu ihrem Vermerk über einen Jungen namens Bibi. Katja erinnerte sich, dass sie den ungewöhnlichen Namen schon in einem der Briefe Phebes an Johanna gelesen hatte. Ob es sich um denselben Jungen handelte? Der Dreijährige hatte seit dem Massaker kein Wort mehr gesprochen. Aus irgendeinem Grund war diese Notiz nicht im Ordner mit den anderen Kindern aus der St.-Paul-Mission abgelegt gewesen, und Katja fragte sich, ob Schludrigkeit oder Absicht dahintersteckte. Soweit sie die Aktenlage überschaute, war dieser kleine Kerl das einzige unter den betroffenen Kindern, das mit einer solch ausgeprägten Form der Kommunikationsstörung auf das Erlebte reagiert hatte. War der Junge besonders empfindsam gewesen, oder hatte er Schlimmeres als die anderen gesehen?
Katja seufzte. Im Nachhinein war diese Frage nicht mehr zu beantworten. Sie durfte auch nicht vergessen, dass die Erkenntnisse von Dr. Partik auf dem Wissensstand des letzten Jahrhunderts fußten und dementsprechend mit Vorsicht zu genießen waren. Mit den Begriffen »Trauma« oder »totaler Mutismus« hätte er wahrscheinlich wenig bis gar nichts anfangen können. Dennoch: Die Symptome waren eindeutig beschrieben. Bibi hatte zur Zeit der Untersuchung seit über einem Jahr geschwiegen. So etwas nannte man in der
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