Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
ist?», nuschelte Lilo und brachte dabei kaum die Lippen auseinander.
«Wir müssen hier weg, Lilo, hörst du?» Hella sah sofort, dass mit der Seifensiederin etwas nicht stimmte. Sie war nicht bei Sinnen, taumelte herum wie ein Mensch im Rausch.
«Lilo!», herrschte Hella sie an, und die Frau riss einen Augenblick lang die Augen auf. «Lilo, er ist ein Mörder. Schnell, hilf mir.»
Die Frau stieß sich vom Türrahmen ab, trat einen Schritt in die Kammer, strauchelte dabei, sodass sie sich am Rahmen halten musste. «Will nicht weg!», lallte sie.
«Doch, du musst. Wir müssen. Und du musst jetzt herkommen und mir die Fesseln lösen.»
Die Lilo schüttelte den Kopf. «Will nicht weg, der Liebste …»
«Der Liebste kann warten, dein Kind nicht. Du musst es befreien.»
«Das Kind?», murmelte Lilo.
«Ja, das Kind. Er will es dir nehmen. Weiß Gott, was er damit vorhat.»
«Will nicht», brabbelte die Lilo störrisch und schüttelte den Kopf, dass die Stoppeln auf ihrem Kopf wie Kobolde tanzten.
«Er hat dir gesagt, er würde dich zu deinem Liebsten führen, aber das tut er nicht. Gott will, dass du dein Kind aufziehst. Es braucht seine Mutter, wo es schon keinen Vater mehr hat.»
«Keinen Vater», wiederholte die Lilo und nickte.
«Du musst ihm Vater und Mutter sein. Es will doch leben. Lebe für dein Kind, lebe für den Liebsten, das ist es, was Gott will.»
Die Lilo glotzte, als hätte sie soeben eine Neuigkeit erfahren.
«Los, hilf mir, löse die Fesseln!»
Lilo stolperte einen Schritt auf Hella zu. «Gut machst du das, sehr gut. Komm her, ganz langsam, komm schon, Lilo, hilf mir», sprach Hella auf die Taumelnde ein. «Komm, noch zwei Schritte.»
Die Lilo hob das Bein, dabei fiel ihr Blick auf das rotgefärbte Laken. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, schwankte nach links, den rechten Fuß noch immer zum Schritt erhoben. Sie ruderte mit den Armen, doch sie fand keinen Halt und stürzte schließlich wie ein Baum zu Hellas Füßen auf den Boden, ihre Haarstoppeln tränkten sich mit dem Blut der Toten.
«Lilo!», schrie Hella. «Wach sofort auf, komm schon!»
Aber die Seifensiederin rührte sich nicht.
Hella ruckelte auf dem Stuhl hin und her, versuchte, näher an die Liegende heranzukommen, aber vergeblich.
Da begann sie zu weinen, schluchzte so sehr, dass sich ihre Brust in großen Stößen hob und senkte. Wir sind verloren, dachte sie. Ich bin verloren. Mein Kind in der Kammer und mein Kind im Bauch, die Lilo und ihr Kind, wir alle sind verloren.
Und dann schloss sie die Augen und betete, wie sie noch nie in ihrem Leben gebetet hatte. Dabei rannen ihr die Tränen übers Gesicht, tränkten den Stoff ihres Kittels, rannen auch in ihren offenen Mund, sodass Hella das Salz schmecken konnte.
«Wir sind verloren», dachte sie noch einmal und roch den Duft des Blutes so deutlich, als wäre es ihr Blut, das da floss und das Laken rot färbte.
Wir sind verloren, dachte sie noch ein letztes Mal, dann ließ sie ihren Körper nach hinten gegen die Stuhllehne fallen, die Augen noch immer geschlossen, um das Grauen nicht sehen zu müssen.
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Kapitel 44
G ustelies kauerte auf dem Boden der Kanzel, die Hand griffbereit um den Pfannenstiel geklammert.
Von oben konnte sie nichts erkennen, doch sie wusste, dass Heinz Blettner hinter dem Beichtstuhl hockte und Bruder Göck sich, wie er sagte, die Tonsur von den Fransen an der Altardecke kraulen ließ. Vor und hinter der Kirche hatte der Schultheiß Büttel als Wachen aufgestellt. Er selbst beobachtete das Geschehen von einem Fenster des Nachbarhauses aus.
Alles war bereit, ein jeder an seinem Platz. Gustelies konnte hören, wie jemand in die Kirche kam. Ihre Hand umklammerte den Pfannenstiel noch fester. Vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu machen, lugte sie über die Brüstung und erkannte Mutter Dollhaus, die beschwingt die Tür zur Sünderkammer aufriss.
Sie hörte ihren Bruder und Mutter Dollhaus im Beichtstuhl murmeln, und es schien ihr Ewigkeiten zu dauern, bis die alte Frau wieder herauskam.
Gustelies’ Rücken begann zu schmerzen, und auch die Knie taten ihr weh. Doch schon kam der nächste Sünder – und dann noch eine und noch einer und noch eine und noch einer.
Gustelies konnte ihre Ungeduld kaum zügeln. Am liebsten wäre sie nach unten gehetzt, hätte die Leute vor der Kirchentür abgefangen und ihnen persönlich die Beichte abgenommen, nur damit der Mann mit den Skalpen ungestört zu Pater Nau gehen konnte.
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