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Die vergessene Insel

Die vergessene Insel

Titel: Die vergessene Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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aneinander, berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn und
verbeugte sich fast bis zu den Schuhspitzen: »Es ist
meine Aufgabe, für Eure Sicherheit zu sorgen. Bitte
verzeiht mir, daß ich Euch nicht eher zu Hilfe eilen
konnte. Aber es war unmöglich, sich dem Schiff auf
hoher See zu nähern. Die Soldaten waren sehr wachsam.«
»Ihre ... Aufgabe?« wiederholte Mike perplex. »Aber
wieso? Ich ... ich meine ... ich kenne Sie ja nicht einmal.«
»Dafür kenne ich Euch um so besser, Herr«, antwortete Singh mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Während der letzten sechs Jahre habe ich über Euch
gewacht, so gut ich konnte.«
»Das haben wir gemerkt«, spöttelte Ben. »Vor allem in
London, als wir um ein
Haar umgebracht worden
wären.«
»Halt endlich die Klappe, Ben!« sagte Mike zornig und
ohne den Blick von Singh zu wenden. »Der Mann am
Hafen? Der waren Sie, nicht wahr?«
Singhs Gesicht verdüsterte sich. »Ja, Herr«, sagte er.
»Bitte verzeiht mir. Ich versuchte Euch zu warnen,
aber ich hatte unsere Feinde unterschätzt. Sie stellten
mir eine Falle. Ich konnte ihnen entkommen, aber da
wart Ihr und Eure Freunde bereits an Bord
dieses
Schiffes gebracht worden. Wenn Ihr mich dafür bestrafen wollt, werde ich die Strafe mit Freuden entgegennehmen.«
»Bestrafen?« wiederholte Mike verwirrt. »Wie kommen Sie auf die Idee? Sie haben uns gerade das Leben
gerettet, oder?«
Singh verbeugte sich abermals auf jene sonderbare
Weise. »Die Götter waren mir gnädig«, sagte er.
Mike seufzte. »Meinetwegen«, sagte er. »Dann waren
es eben die Götter. Aber tun Sie mir einen großen Gefallen, Singh?«
»Euer Wunsch ist mir Befehl, Herr«,
antwortete
Singh.
»Gut«, sagte Mike. »Dann hören Sie um Himmels willen auf, mich Herr zu nennen.«

Auch in dieser Nacht fand Mike kaum Schlaf, obwohl
Singh ihm eine Kajüte ganz für sich allein zugewiesen
hatte. Es war nicht die Aufregung über ihre abenteuerliche Flucht, die ihn sich bis in die frühen Morgenstunden hinein auf dem Bett herumwälzen ließ, sondern die Erinnerung an den Tod der beiden Soldaten,
für den er sich immer noch die Schuld gab. Und die
absurde Furcht, daß die Welt, die er bei seinem Aufwachen vorfinden würde, wieder nicht mehr dieselbe
war wie am Abend.
Noch vor wenig mehr als einem Monat war er nichts
anderes als ein ganz normaler Schüler unter zweihundert anderen gewesen, und nun befand er sich am anderen Ende der Welt, war aus wochenlanger Gefangenschaft geflohen, man hatte auf ihn und
seine
Freunde geschossen, und er hatte erfahren, daß er seit
sechs Jahren einen Schutzengel besaß, der unbemerkt
über ihn gewacht hatte. Und um das Maß voll zu machen, wußte er immer noch nicht, warum all dies
überhaupt geschehen war!
Er drehte sich auf der schmalen Koje herum und
gönnte sich noch einige Sekunden, in denen er in dem
    grauen Zwielicht zwischen Schlaf und Wachsein dahindämmerte. Aber dann spürte er, daß er wieder einzuschlafen drohte, und im gleichen Moment erinnerte
er sich an einen Traum, den er in dieser Nacht gehabt
hatte; einen Traum, in dem zwei tote Männer an sein
Bett getreten waren und vorwurfsvoll auf ihn herabgeblickt hatten. Ihre Kehlen waren durchschnitten gewesen, so daß in ihren Hälsen große, blutige Wunden
wie zusätzliche Münder mit leuchtendroten Lippen
klafften, sie hatten immer wieder auf ihn gedeutet,
und schließlich hatte er an sich herabgesehen und erkannt, daß er einen Dolch in der Hand hielt, an dessen Klinge frisches Blut klebte.
An dieser Stelle war zwar der Traum nicht abgebrochen, aber dumpfe, polternde Geräusche und Stimmengewirr drangen in sein Bewußtsein und ließen
ihn gänzlich wach werden. Das war ihm nur recht,
denn er hatte Angst davor, wieder einzuschlafen. Er
fragte sich, ob er jemals wieder würde schlafen können, ohne die Gesichter der beiden Männer zu sehen.
Mike setzte sich auf,
gähnte hinter
vorgehaltener
Hand und rieb sich die Augen. Er hörte jetzt Bens
Stimme aus dem Durcheinander heraus, dann die
Juans und die Miß McCrooders. Sie alle klangen sehr
aufgeregt. Für einen Moment war Mike ernsthaft versucht, sich wieder hinzulegen. Er war es einfach leid,
sich zu streiten, zu diskutieren oder auch einfach nur
irgendeine Entscheidung zu treffen. Für eine Sekunde
wünschte er sich nichts mehr, als die Augen aufzuschlagen und festzustellen, daß
alles nichts als ein
Traum gewesen war.
Der Streit in der benachbarten Kabine wurde lauter.
Widerstrebend schwang Mike die Beine von der Liege
und stand

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