Die vergessene Insel
hatte. Die Jacht schoß
mit prall geblähten Segeln vor dem Wind dahin, und
Singh hatte den Hilfsmotor eingeschaltet, um auch
noch das letzte bißchen Geschwindigkeit aus dem
Schiff herauszuholen. Trotzdem näherte sich die LEOPOLD unaufhaltsam. Mike hatte sogar das Gefühl, daß
das Schiff sein Tempo ein
wenig
gedrosselt
hatte;
wahrscheinlich hatte man auch dort die Gefahr bemerkt, die von den verborgenen Riffen ausging, und
wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Und warum
auch? Sie konnten dem Schiff nicht mehr entkommen.
Und selbst wenn, dachte Mike - sie hatten Winterfeld
schließlich genau dorthin geführt, wo er es gewollt
hatte. Für einen Moment fragte er sich allen Ernstes,
ob der deutsche Kapitän ihre Flucht nicht im stillen
unterstützt - oder zumindest stillschweigend geduldet
- hatte, damit genau das geschah, was nun geschehen
war.
Er verscheuchte den Gedanken. Es war müßig, sich
den Kopf zu zerbrechen. In spätestens einer Stunde
würden sie alle Antworten erfahren; wahrscheinlich
sogar eher.
Nun konzentrierte er sich wieder auf das, was vor ihnen lag. Singh hatte den Kurs der Jacht abermals ein
wenig korrigiert, so daß sie nun beinahe parallel zu
der Insel dahinjagten, statt sich ihr in spitzem Winkel
zu nähern. Der Anblick war majestätisch und furchterregend zugleich. Die Insel war bar jeglicher Vegetation, und ihre Flanken erhoben sich nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich vollkommen gerade aus dem
Meer. Sie sah aus wie ein titanischer Felspfeiler, den
jemand zwanzig oder dreißig Meter über dem Wasser
abgeschnitten hatte. Wahrscheinlich gab es dort oben
ein Plateau, auf dem sich das verbarg, was immer das
wahre Geheimnis dieser Insel war.
Der Gedanke, so kurz vor dem Ziel zu
scheitern,
machte Mike fast krank. Er wandte sich zu Singh um,
der hoch aufgerichtet hinter dem Ruder stand und die
Insel und vor allem das Meer an ihrem Fuß keine Sekunde aus dem Auge ließ.
»Gibt es denn gar keine Möglichkeit zu entkommen?«
fragte er.
Er rechnete nicht mit einer Antwort. Vermutlich
brachte er sie alle in Gefahr, wenn er Singh ablenkte,
denn in diesen tückischen Gewässern konnte schon
ein Moment der Unaufmerksamkeit zum Verhängnis
werden. Trotzdem antwortete Singh nach einigen Sekunden.
»Vielleicht«, sagte er. »Wenn wir die andere Seite erreichen, haben wir eine kleine Chance. Aber es wird
gefährlich.«
Mike hätte um ein Haar gelacht. Gefährlich? Was
glaubte Singh denn, was ihre Reise bisher gewesen
war? Trotzdem fragte er: »Wie gefährlich?«
»Es könnte unser aller Leben kosten«, antwortete
Singh. Er hörte sich nicht so an, als erschrecke ihn
dieser Gedanke sonderlich.
»Aber wir haben eine Chance?« vergewisserte sich
Mike.
»Eine kleine«, sagte Singh. »Wenn unser Vorsprung
reicht und die Götter auf unserer Seite sind.«
Mike sah wieder zur LEOPOLD zurück. Was Singhs
Götter anging, so maßte er sich kein Urteil an - aber
die LEOPOLD war tatsächlich langsamer geworden.
Sie kam noch immer näher, aber ihr Vorsprung
schmolz jetzt nicht mehr so rasch wie bisher.
»Dann versuch es«, sagte er.
Singh zögerte. »Es ist nicht nur Euer Leben, über das
Ihr entscheidet«, sagte er. »Habt Ihr Eure Freunde gefragt, ob Ihr auch ihres riskieren dürft?«
Mike sah ihn betroffen an. Es machte ihn verlegen,
daß Singh ihn darauf hatte aufmerksam machen müssen. Aber er mußte gar nicht fragen. Alle anderen
standen in Hörweite, und er empfand ein Gefühl tiefer
Dankbarkeit, als er die Zustimmung in ihren Augen
erkannte. Aber er spürte auch die Last der Verantwortung, die damit auf seine Schultern gelegt worden
war.
»Versuch es«, sagte er leise, aber sehr entschlossen.
Das Schiff schoß weiter wie ein Pfeil auf den Wellen
dahin, und die steinernen Flanken der Felseninsel jagten nur so an ihnen vorüber, und trotzdem hatte Mike
plötzlich das Gefühl, als liefe die Zeit zehnmal langsamer. Die LEOPOLD fiel weiter hinter ihnen zurück,
und die bisher unsichtbare Rückseite der Vergessenen
Insel tauchte nun vor ihnen auf.
Mike hatte alle Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Die Rückseite der
Insel unterschied sich in
nichts von der Vorderseite. Der Fels war wie eine solide Mauer, in der es nicht die kleinste Lücke zu geben schien.
Plötzlich wehte ein dumpfer Knall über das Meer zu
ihnen heran. Kaum eine Sekunde später hörten sie
ein schrilles, immer lauter werdendes Heulen, und
dann schoß eine turmhohe, weiße Gischtsäule kaum
hundert Meter vor dem Bug der Jacht in die
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