Die Vergessene Welt
Wackeln
seines Ziegenbartes vorgebracht. Seit wir hier sind, hat er in der
Schönheit und Vielfalt der Insekten- und Vogelwelt ringsum
etwas Trost gefunden – er ist mit Leib und Seele der
Wissenschaft verschrieben. Tagsüber saust er mit Schrotflinte
und Schmetterlingsnetz durch die Gegend, und abends ordnet
er seine zahlreichen erbeuteten Exemplare. Zu seinen
Eigentümlichkeiten gehört es, daß er sich nachlässig kleidet,
nicht gerade reinlich ist und Pfeife raucht. In seiner Jugend
hat er an mehreren wissenschaftlichen Expeditionen
teilgenommen – er war mit Robertson in Papua –, das Leben
im Zelt und Kanu ist ihm nichts Neues.
Lord John Roxton hat einige Punkte mit Professor
Summerlee gemeinsam, sonst jedoch unterscheiden sie sich
wie Tag und Nacht. Der Lord ist zwanzig Jahre jünger, hat aber
annähernd den gleichen mageren, knochigen Körperbau. Sein
Aussehen habe ich schon in dem in London verbliebenen Teil
meiner Aufzeichnungen beschrieben. Er benimmt sich äußerst
aristokratisch und zurückhaltend, kleidet sich stets sorgfältig
mit weißen Drillichanzügen und hohen braunen Stiefeln und
rasiert sich mindestens einmal täglich. Wie die meisten
Tatmenschen macht er nicht viele Worte und bleibt gern mit
seinen Gedanken allein, ist aber jederzeit bereit, auf eine Frage
zu antworten oder sich in ein Gespräch einzuschalten, wobei er
dann in einer seltsam abgehackten, halb scherzhaften Manier
redet. Seine geographischen Kenntnisse von Südamerika sind
erstaunlich. Er glaubt fest an den Erfolg unserer Reise und läßt
sich durch Professor Summerlees abfällige Bemerkungen nicht
beeinflussen. Seine Stimme ist sanft, sein Betragen gemessen,
aber seine blitzblanken blauen Augen verraten, daß er durchaus
zu Zornesausbrüchen und Sturheit fähig ist. Und die können
um so gefährlicher sein, als sie für gewöhnlich im Zaum
gehalten werden. Er redete nur wenig über seine Erlebnisse in
Brasilien und Peru. Die Begeisterung jedoch, die sein
Erscheinen bei den Eingeborenen längs des Flusses auslöste,
war beeindruckend. Sie betrachten ihn als ihren Helden und
Beschützer. Die Ruhmestaten des Roten Häuptlings, wie sie
ihn nennen, sind bei ihnen schon zur Legende geworden, was
nicht verwunderlich ist.
Vor einigen Jahren war Lord John in jenes Niemandsland
gekommen, das zwischen den nicht exakt festgelegten Grenzen
von Peru, Brasilien und Kolumbien liegt. In diesem Bezirk
wächst der wilde Gummibaum: für die Eingeborenen ein Fluch,
der – wie am Kongo – nur noch mit der Zwangsarbeit in den
alten Silberminen von Darien unter spanischem Joch
vergleichbar ist. Eine Handvoll Mestizen beherrschte das Land.
Sie bewaffneten einige Indianer, die ihnen willfährig waren,
und versklavten den Rest. Mit den unmenschlichsten Methoden
terrorisierten sie die Eingeborenen, um sie zum Sammeln des
Gummisafts zu zwingen, die dann auf dem Fluß nach Para
gebracht wurden. Lord John Roxton machte sich zum
Fürsprecher der elenden Geschöpfe und erntete nichts als
Drohungen und Beschimpfungen. Darauf erklärte er Pedro
Lopez, dem Anführer der Sklavenhalter, in aller Form den
Krieg. Er stellte eine Truppe aus entlaufenen Sklaven auf und
begann einen Feldzug, den er erst beendete, nachdem er den
berüchtigten Mestizen eigenhändig getötet und das System,
dessen Hauptvertreter dieser gewesen war, zerstört hatte.
So war es also kein Wunder, daß der Mann mit den
flachsblonden Haaren und der weichen Stimme und dem freien,
unerschrockenen Betragen an den Ufern des großen
südamerikanischen Flusses beträchtliches Aufsehen erregte.
Die Dankbarkeit der Eingeborenen wurde aber zum Teil
aufgewogen vom Haß der Mestizen, die ihre Ausbeutung gern
fortgesetzt hätten. Eine nützliche Folge seines früheren
Aufenthaltes ist es, daß er die Lingoa Geral, den
eigentümlichen Mischmasch aus einem Drittel Portugiesisch
und zwei Dritteln Indianerdialekten, der in ganz Brasilien
verbreitet ist, fließend spricht.
Ich habe bereits erwähnt, daß Lord John Roxton von
Südamerika geradezu besessen ist. Er spricht mit Begeisterung
von diesem Land, und diese Begeisterung ist ansteckend. Sie
zieht sogar mich – trotz meiner unzureichenden Sachkenntnis –
in ihren Bann und erregt meine Wißbegier. Ich wollte, ich
könnte den Zauber seiner Vorträge wiedergeben, diese
einmalige Mischung aus exaktem Wissen und unverbildeter
Phantasie, die den Zuhörer so fasziniert, daß selbst
Weitere Kostenlose Bücher