Die Vergessene Welt
erst im Laufe seines Lebens.
Der nächste Tag brachte den eigentlichen Start zu unserer
Expedition. Wir stellten fest, daß alles Gepäck bequem in den
beiden Kanus Platz hatte, und teilten uns in zwei Besatzungen
von je sechs Mann auf. Im Interesse des allgemeinen Friedens
setzten wir in jedes Boot einen Professor. Ich selber fuhr mit
Challenger, der gut aufgelegt war und vor Wohlwollen
strahlte. Da ich ihn aber schon in anderer Stimmung erlebt
habe, bin ich selten überrascht, wenn ein Gewitter aus heiterem
Himmel kommt. In seiner Gegenwart fühlt man sich nie ganz
unbefangen, weil man ständig damit rechnet, daß seine Laune
umschlägt.
Zwei Tage lang fuhren wir einen mittelgroßen, einige
hundert Meter breiten Fluß hinauf, dessen Wasser dunkel und
doch klar war. Meistens konnte man bis auf den Grund sehen.
Das ist bei vielen Zuflüssen des Amazonas der Fall. Andere
wiederum sind gelblich und trübe. Dieser Unterschied rührt
von
der
verschiedenen
Bodenbeschaffenheit
ihrer
Ursprungsgebiete her. Die dunklen Gewässer zeugen von
vermoderter Vegetation, die anderen verdanken ihre Färbung
lehmigem Boden. Zweimal kamen wir an Stromschnellen, die
wir in beiden Fällen durch einen Transport über Land von über
einer halben Meile Marsch umgehen mußten. Die Wälder auf
beiden Seiten sind urzeitlich und leichter zu passieren als
jüngere
Baumbestände.
Wir
hatten
keine
großen
Schwierigkeiten, mit unseren Kanus hindurchzukommen.
Wie könnte ich jemals das feierliche, rätselvolle Schweigen
vergessen? Die Höhe der Bäume und der Durchmesser ihrer
Stämme übertrafen alles, was ich Stadtmensch mir hätte
vorstellen können. Wie prachtvolle Säulen ragten sie hinauf.
Hoch über unseren Köpfen konnten wir undeutlich erkennen,
wie die Äste in beinahe gotischen Bögen ausschwangen und
sich zu einem einzigen, dichtverstrebten Laubdach vereinigten.
Nur hie und da vermochte ein goldener Sonnenstrahl
durchzudrängen,
um
als
blendender
Lichtpfeil
das
majestätische Halbdunkel zu erhellen. Als wir geräuschlos über
den dicken, weichen Teppich aus vermodertem Pflanzenwerk
gingen, überkam uns das gleiche ehrfruchtsvolle Schweigen,
das einen im Zwielicht eines Domes befällt. Professor
Challengers übliche Lautstärke sank zu einem Geflüster
herab. Ich hatte keine Ahnung von den Namen dieser
Baumriesen, aber unsere Wissenschaftler zeigten mir die
Zedern, die großen Baumwoll- und Mahagonibäume und all
den Überfluß an mannigfaltigen Pflanzen. Bunte Orchideen
und Moose in wunderbarer Farbenpracht glühten auf den
dunklen Baumstämmen. Wo ein verirrter Sonnenstrahl auf
eine goldene Allamanda, die scharlachroten Sternbündel der
Tasconia oder das satte Tiefblau der Ipomae fiel, sah es aus
wie in einem Traum aus einem Märchenland. Das Leben muß
sich in diesen Urwäldern ständig nach oben zum Licht
durchkämpfen. Jede Pflanze, sogar die kleinste, windet und
ringelt sich der grünen Oberfläche entgegen und schlingt sich
um ihre stärkeren Brüder.
Tierisches Leben regte sich kaum in den majestätischen
Gewölben, die sich vor uns erstreckten. Aber eine beständige
Unruhe weit über unseren Köpfen signalisierte die bunte Welt
der Schlangen und der Affen, der Vögel und Faultiere, die dort
oben im Sonnenlicht leben und wohl verwundert auf uns
winzige, dunkle, dahinstolpernde Gestalten in der Tiefe
herabblickten.
In
der
Morgendämmerung
und
bei
Sonnenuntergang schrien Brüllaffen, und Sittiche brachen in
schrilles Gekreische aus. Während der heißen Tagesstunden
jedoch drang nur das durchdringende Sirren der Insekten an
unser Ohr. Sonst regte sich nichts im Dunkel zwischen den
Baumstämmen. Nur einmal rannte ein krummbeiniges,
watschelndes Etwas, ein Ameisenbär oder was auch immer,
unbeholfen vor uns davon und verschwand im Schatten. Das
war das einzige Zeichen von tierischem Leben, das ich in
diesem riesigen Waldgebiet am Amazonas sah.
Und doch gab es Anzeichen dafür, daß sogar menschliches
Leben in dieser Abgeschiedenheit existierte, und gar nicht so
weit von uns entfernt: Am dritten Reisetag bemerkten wir in
der Luft ein rhythmisches und feierliches Trommeln, das den
ganzen Vormittag hindurch anhielt. Im Abstand von wenigen
Metern zogen unsere Boote dahin, als wir es zum erstenmal
hörten. Unsere Indianer erstarrten. Unbeweglich wie
Bronzestatuen lauschten sie, und aus ihren Gesichtern sprach
Entsetzen.
»Was ist das?« fragte
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