Die Vergessene Welt
plötzlichen Angriff Feuerschutz zu geben.
Bei Einbruch der Dunkelheit hatten wir die Stromschnellen
glücklich hinter uns gebracht und waren sogar noch zehn
Meilen weiter flußaufwärts vorgedrungen. Wir warfen Anker
und bereiteten unser Nachtlager. Nach meiner Schätzung hatten
wir bis zu diesem Punkt bereits gute hundert Meilen auf diesem
Nebenfluß des Amazonas zurückgelegt.
Am frühen Morgen des nächsten Tages kam die große
Kursänderung.
Professor
Challenger,
der
seit
dem
Morgengrauen auffällig unruhig und nervös gewesen war,
suchte unaufhörlich beide Flußufer ab, bis er plötzlich eine Art
Freudengeheul anstimmte und auf einen alleinstehenden Baum
deutete, der in einem schrägen Winkel über das Ufer ragte.
»Und wofür halten Sie das?« fragte er Professor
Summerlee.
»Für eine Assaipalme«, antwortete dieser.
»Richtig. Und genau diese Assaipalme ist mein Wegweiser.
Der verborgene Einstieg liegt genau eine halbe Meile von hier
entfernt, am gegenüberliegenden Flußufer. Im Unterholz
keine Lücke, das sind das Wunder und das Geheimnis. Keine
Lücke, aber statt des dunkelgrünen Dickichts Binsen von
einem etwas helleren Grün. Die Binsen verbergen das Tor,
welches ins Unbekannte führt. Sie werden es gleich mit
eigenen Augen sehen.«
§
Der Atem stockte mir. Als wir die Stelle mit den Binsen
erreicht und unsere Kanus hindurch gesteuert hatten, kamen
wir nach etwa hundert Meter in einen ruhig
dahinfließenden, flachen Strom, dessen Wassermassen klar
und durchsichtig über sandigen Grund glitten. Der Strom mag
an die zwanzig Meter breit sein, seine Ufer quellen über vor
üppiger Vegetation. Nur wer das scharfe, geübte Auge des
Professors besitzt, und ich gehöre zu jenen, ist in der Lage, die
leichte Veränderung in der Schattierung der Grüntöne zu
erkennen, die den Zugang zu diesem Strom und seiner
märchenhaften Umgebung bildet.
Die Landschaft ist prachtvoller, als alle menschliche
Phantasie sie zu erträumen vermag. Der reiche Pflanzenwuchs
der Ufer strebt in die Höhe, um sich weit über uns wie in einem
natürlichen Laubengang zu treffen und ineinander zu
verschlingen. Auf seinem Grund in goldenem Zwielicht der
Fluß, klar wie Kristall, fast bewegungslos und grün schillernd
wie die Kanten eines Eisbergs. Jeder Schlag unserer Paddel
bewirkte,
daß
tausend
kleine
Fältchen
über
die
Wasseroberfläche glitten. Ein zauberhafter Weg ins Land der
Wunder.
Von den Indianern war nichts mehr zu hören, aber Tiere
gab es, und ihre Zutraulichkeit schien zu beweisen, daß sie im
Menschen keine Gefahr sahen. Die Wildnis hier wurde also
selten von Menschen durchstreift.
Flaumige, kleine Seidenäffchen mit schneeweißen Zähnen
und frechen Augen schnatterten uns zu, als wir an ihnen
vorbeiglitten. Aus einer lichten Stelle am Ufer lugte uns ein
dicker, plumper Tapir hinterher, ab und zu ließ sich ein Alligator
mit einem Plumpsen vom Ufer ins Wasser fallen, und einmal
sahen wir sogar einen Puma im Unterholz verschwinden.
Vögel gab es in Überfluß, vor allem Stelzvögel – Störche,
Kraniche und Ibisse hockten in buntgefiederten Gruppen auf
jedem Ast, der aus dem Wasser ragte. Und im Wasser
wimmelte es von Fischen aller nur erdenklichen Farben und
Formen. Drei Tage lang durchquerten wir diesen Tunnel mit
seinem sanft grünen Licht. Auf längeren geraden Strecken
konnte man kaum erkennen, wo das grüne Wasser endete und
der Laubengang begann. Kein Zeichen menschlichen Lebens
störte den tiefen Frieden dieses seltsamen Wasserlaufs.
»Hier sind keine Indianer«, sagte Gomez irgendwann. »Zu
große Angst vor Curupuri.«
»Curupuri ist der Geist des Urwalds«, erklärte Lord John.
»Er ist für die Eingeborenen eine Art Teufel. Sie glauben, daß
dort, wo wir hinsteuern, etwas Fürchterliches lauert. Deshalb
kommen sie nicht hierher.«
Am dritten Tag war allen klar, daß unsere Reise in den
Kanus nicht mehr lange weitergehen konnte. Der Wasserlauf
wurde immer flacher. Zweimal in zwei Stunden liefen wir auf
Grund und saßen fest. Endlich zogen wir die Boote hinauf ins
Gebüsch und verbrachten die Nacht am Flußufer. Am Morgen
unternahmen Lord John und ich einen Erkundungsgang von
einigen Meilen durch den Wald, wobei wir uns parallel zum
Wasser hielten. Je weiter wir flußaufwärts kamen, desto
niedriger wurde der Wassertand, und so kehrten wir um und
berichteten, was Professor Challenger bereits vermutet hatte:
daß wir von
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