Die Vergessene Welt
nun an unsere Kanus nicht weiter mitnehmen
konnten. Wir zogen sie deshalb an Land, verbargen sie im
Gebüsch und markierten einen Baum mit der Axt, um sie bei
der Rückkehr wiederzufinden. Dann wurden die Lasten verteilt
– Gewehre, Munition, Verpflegung, ein Zelt, Decken. Wir
schulterten unsere Bündel und brachen zum beschwerlichsten
Teil unserer Reise auf.
Ein unseliger Streit zwischen unseren beiden akademischen
Hitzköpfen stand am Beginn dieses neuen Abschnitts. Zum
Mißvergnügen Summerlees hatte Challenger seit dem
Augenblick seines Auftauchens das Kommando über unsere
kleine Truppe übernommen. Jetzt, als er seinem Kollegen auch
eine kleine Aufgabe zuteilen wollte – es handelte sich lediglich
um den Transport eines kleinen Vakuum-Barometers –, kam
der angestaute Groll plötzlich zum Ausbruch.
»Darf man fragen«, sagte Summerlee mit unnatürlicher
Ruhe, »mit welchem Recht Sie glauben, uns Befehle erteilen
zu können?«
Challenger starrte ihn mit gesträubtem Bart an. »Das tue
ich in meiner Eigenschaft als Leiter dieser Expedition,
Professor Summerlee.«
»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie
in dieser Eigenschaft nicht anerkenne.«
»Tatsächlich!«
Challenger
verbeugte
sich
ironisch.
»Vielleicht hätten Sie die Güte, mir dann meine Rolle bei
diesem Unternehmen zu erklären.«
»Jawohl, die Güte habe ich. Sie sind ein Mann, dessen
Glaubwürdigkeit bezweifelt wird. Dieses Komitee ist
hierhergekommen, Sie zu überprüfen. Sie befinden sich in der
Gesellschaft Ihrer Richter, verehrter Herr Kollege.«
»Du meine Güte!« sagte Challenger und setzte sich auf
den Rand eines Kanus. »In diesem Falle können Sie Ihren Weg
fortsetzen, und ich werde Ihnen nach Belieben folgen. Wenn ich
nicht der Anführer bin, können Sie auch nicht erwarten, daß
ich Sie führe.«
Dem Himmel sei Dank, daß es wenigstens noch zwei
normale Menschen – Lord John Roxton und mich – gab, die
verhüten konnten, daß wir wegen der Launenhaftigkeit unserer
Gelehrten mit leeren Händen umkehren mußten. Welcher
Argumente, Beschwörungen und Erklärungen bedurfte es, bis
wir sie besänftigt hatten! Dann war endlich Summerlee bereit,
vorauszugehen. Challenger stapfte grollend hinterher. Durch
einen glücklichen Zufall fanden wir zu diesem Zeitpunkt
heraus, daß unsere Professoren die denkbar schlechteste
Meinung von einem Dr. Illingworth in Edinburgh hatten. Das
wurde unsere Rettung. Jede gefährliche Situation wurde nun
dadurch entspannt, daß wir den Namen dieses schottischen
Zoologen ins Gespräch brachten, und prompt bildeten unsere
Freunde in ihrer Verachtung und Beschimpfung dieses
gemeinsamen Gegners eine vorübergehende Allianz.
Als wir im Gänsemarsch am Ufer weiter vorrückten,
bemerkten wir bald, daß der Fluß sich zu einem bloßen Bach
verengte. Schließlich verlor er sich ganz in einem großen grünen
Morast aus schwammigen Moosen, in den wir bis zu den
Knien einsanken. Wolken von Stechmücken und alle
möglichen Arten fliegender Insekten plagten uns. Wir waren
froh, als wir uns wieder auf festen Grund gerettet hatten, und
entschlossen uns zu einem Umweg durch den Wald.
Am zweiten Tag unseres Fußmarsches änderte sich der
Charakter der Landschaft. Unser Weg führte beständig
aufwärts. Die Wälder wurden spärlicher und verloren ihre
tropische Üppigkeit. Die gewaltigen Bäume der Amazonas-
Ebene wichen Phönix- und Kokospalmen, die in einzelnen
Gruppen inmitten dichten Gebüschs standen. In den
feuchteren Mulden breiteten Mauritia-Palmen ihre anmutig
herabhängenden Wedel aus.
Wir gingen nur nach dem Kompaß. Einmal gab es
Meinungsverschiedenheiten zwischen Challenger und den
beiden Indianern. Dabei vertraute, um Challengers Worte zu
gebrauchen, die ganze Gesellschaft »den fehlerhaften Instinkten
primitiver Wilder mehr, als dem Wissen eines feinnervigen
Exponenten der modernen europäischen Kultur.« Am dritten
Tag stellte sich heraus, daß Challenger recht gehabt hatte. Er
konnte uns mehrere markante Punkte seiner Expedition vor
zwei Jahren zeigen. An einer Stelle trafen wir auf vier vom
Feuer geschwärzte Steine, die von einem Lagerplatz stammten.
Unser Weg stieg weiterhin an. Wir überquerten einen
felsübersäten Abhang, wozu wir zwei Tage brauchten. Wieder
hatte der Pflanzenwuchs sich verändert. Nur der Elfenbeinbaum
blieb noch übrig, daneben herrliche Orchideen im Überfluß,
darunter zuweilen die
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